Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 502
Das kriegerische Genie (Ferrero, Guglielmo, Prof.)
Text
die Fähigkeit, mit der vollen Thatkraft, mit der Klarheit des Blickes
und der Grösse der Ideen jene Umwandlungen zu beschleunigen, die
für eine Gesellschaft nothwendig sind, deren Einrichtungen — nach
dem Ueberstehen furchtbarer Wirren — gefestigt und dauernder ge-
staltet wenden sollen. Er war also ein Schöpfer, und als solcher war
er ein frohsinniger Geist, ein Mann, wie ihn die Alten geschildert
haben: heiter und friedfertig, Herr über sich selbst, voll Vertrauen in
alle Dinge, in sich, in sein Glück, in seine Freunde, in die Zukunft
seiner Ideen, in die Vernünftigkeit und Dankbarkeit der Menschen.
Dieses optimistische Vertrauen in alle Dinge bei einem Manne, der so
viel gelebt und gehandelt hatte, musste für ihn die höchste Glück-
seligkeit bedeuten, deren ein Mann in einer solchen gewaltthätigen Epoche
fähig sein konnte. Und so kommt es auch, dass Julius Cäsar heute
noch, nach so vielen Jahrhunderten, uns ein freude- und jugendstrahlendes
Antlitz zeigt. Wie so ganz anders sieht neben ihm das finstere Antlitz
Napoleon’s aus, dieses furchtbaren Völkervernichters! Denn, seien wir
ehrlich, die Fabel vom schöpferischen Genius Napoleon’s ist eine der
grössten Täuschungen unseres Jahrhunderts. Die Intelligenz Napoleon’s
hatte wohl manche besondere, bewundernswerthe Eigenschaft: das
kolossale Gedächtniss für Einzelheiten, die Raschheit des Denkver-
mögens, die Widerstandsfähigkeit gegenüber allen Mühen; aber es
mangelte ihr an der grundlegenden Eigenschaft des wahren, politischen
Genies, an derjenigen, die Julius Cäsar in so überaus hohem Grade
besass; an dem Realismus, an der Fähigkeit, die Gesellschaft und deren
vielseitig verworrene Bedürfnisse und dunkle Neigungen zu verstehen,
um sie dieser selbst zu enthüllen und so ihre Aufgabe zu erfüllen. Es
ist unmöglich, in der ganzen Politik Napoleon’s irgend einen Plan, eine
Cohärenz, irgend eine leitende Idee zu finden, abgesehen von jener,
seinen Verwandten Throne zu geben; alles Uebrige ist das confuse
Gebahren eines Mannes, der, statt einer Gesellschaft ihre eigenen noch
verworrenen Tendenzen zu enthüllen, bloss bestrebt war, mit einer
fieberhaften, aber sterilen Willensanstrengung die ganze Gesellschaft
seinen eigenen überspannten und ausschweifenden Wahnideen anzu-
passen.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 502, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-13_n0502.html)