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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 516

Text

KRITIK.

Theater an der Wien.
»Königskinder.« Von Ernst Rosmer.
Musik von Humperdinck.

Wenn man frägt, was denn das
Fesselnde an dieser rührsamen
Märchentragödie sei, so kann man
mit der Antwort gar nicht zögern:
es ist das Einfache, Schlichte, ich
möchte sagen: Präraphaelitische. An
Burne Jones, an Eduard Munch
muss man denken, an ihre steifen
und geraden wie hölzernen Ge-
stalten, wenn man die Kunst der
Rosmer vernimmt und ihre schein-
bar naiven, scheinbar ganz achtlos
zusammengefügten Reime. Unsere
Zeit blickt, vom Vorwärtshasten er-
müdet, verlangenden Auges nach
rückwärts. Aus Raffinement, um
einen Moment nur zu ruhen, schafft
sie sich gern eine zweite, fast
allzu simple, allzu natürliche Natur
und stürmt dann selbstverständlich
rastlos und neu gekräftigt wieder
weiter. So kommt das Werk trotz
aller Romantik mit seinen festen,
starken, ungebrochnen Strichen,
mit seinem König, der in allen
Lagen König, mit seiner Gänse-
magd, die selbst als Königsbraut
den Ursprung nicht verleugnet, so
kommt es einem echten und wirk-
lich tiefen Bestreben unserer Cultur
entgegen, und darin liegt sein
Werth, sein Sinn wie auch der
letzte Grund seines mächtigen,
grossen Erfolges. Weil es so ganz
tendenzlos, aus reiner Freude am
Naiven ein buntes, schillerndes

Bild entfaltet, deshalb ist dieses
Stück uns theuer, und weil wir
Kinder sein und allem Ballast der
Cultur entsagen dürfen, deshalb
empfinden wir es als Erlösung.
Gerhart Hauptmann’s »Versunkene
Glocke« dröhnt ohne Zweifel wuch-
tiger und lauter, aber der helle,
süsse, singende Märchenton der
»Königskinder« fehlt ihr fast
ganz; in seiner weiten Symbolik,
in seiner Tiefe und Gedankenschwere
hat Hauptmann’s Drama nicht diese
quellfrische Ursprünglichkeit und
Grazie; freier, reiner und styl-
gerechter stehen die harmlosen,
die »Königskinder« da: denn Mäd-
chen und Märchen, sie müssen
naiv sein — oder doch scheinen
Die Darsteller der Hauptparthien,
Frau Hohenfels und Herr Christians
vermochten diesen Ton in meister-
licher Art zu treffen. Auch Herr
Josephi als Spielmann sowie Frau
Stein als Hexe bewiesen hier das
nöthige Verständnis und eine feine,
gute Kunst. G. L.

Humperdinck’s Musik steht
streng im Gegensatze zur passiven
Rolle dieser Kunst im Melodrama
älteren Styles; handelte es sich
dort nur um ein musikalisches
Untermalen der gesprochenen Worte,
so strebt der Componist hier einen
höheren Rang als den des blossen
Illustrators an: er will den Vortrag
des Schauspielers durch genaue
Bestimmung des Tonfalles jeder
Rede regeln. Dass das Einhalten

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 516, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-13_n0516.html)