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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 511

Text

DER GEGENWARTSSCHAUSPIELER.
Von Karl Kraus (Wien).

Der Mann, der den Naturalismus erfunden hat, eröffnete sein
Gastspiel im Carltheater mit »Marquise« und »Arme Löwin«. Die
Frivolität vergangener Generationen, als deren Anwalt sich Sardou
gerirt, vermochte uns aber ebensowenig zu interessiren als der unzeit-
gemässe Eifer des Sittenpredigers Augier. Interessant war nur, dass
Herr Emanuel Reicher diese Stücke brachte und dass er selbst
völlig uninteressant war. Das Auftreten dieses Schauspielers, an dessen
Namen sich die Erwartung kühnster Modernität knüpfte, hat Viele
unter uns stutzig gemacht, die wir den bedeutungsvollen jung-berlineri-
schen Umwälzungen im Gegensatze zu dem jung-wienerischen Gethue
mit aufrichtiger Antheilnahme gefolgt sind. Der Naturalismus des Herrn
Reicher beschränkt sich auf kleine technische Neuerungen, die eine
durchschnittsmässige Intelligenz leitet. Zum unnatürlichen Schauspieler
fehlt ihm das Talent. Herr Reicher, dem ein um das Jahr 1890 glück-
lich aufgefangenes Schlagwort über alle seine inneren und äusseren
Mängel hinweghilft, sündigt auf die Suggestionsfähigkeit und Tragkraft
der Parole »Naturalismus«. Ein confuser Brief, den er an Herrn Bahr
gerichtet hat, wird heute von verschiedenen Blättern als das Bekennt-
niss des naturalistischen Dogmatikers abgedruckt. Allerdings ist es ihm
hier gelungen, die ganze unfreiwillige Komik, die seinem Auftreten
und seiner Doctrin anhaftet, in einen Kernsatz zusammenzuballen und
so eine leichtere Uebersicht seiner Irrthümer zu ermöglichen. Er zieht
eine Linie von Schiller zu Sudermann, setzt die Mühelosigkeit, Ersteren
zu spielen, den unendlichen Schwierigkeiten eines Sudermann gegenüber
und sagt: »— — wenn Schiller seinen Helden sämmtliche Gefühle,
die ihn eben beherrschen, im wundervollen Schwung der Verse aus-
sprechen lässt, so hat der Schauspieler nicht viel mehr dabei zu thun,
als diese Verse mit mehr oder weniger Temperament schön zu sprechen.«
Gegen diese Behauptung lässt sich nun absolut nichts einwenden, und
Herr Reicher würde auch, wenn er sich einmal zur Darstellung eines
Schiller’schen Helden herabliesse, nichts weiter brauchen als mehr oder
weniger Temperament. Da er jedoch über ein solches nicht verfügt,
da ihm jene inneren Qualitäten in so reichem Masse versagt sind, die
z. B. einen Sonnenthal oder Kainz, einen Baumeister, Rittner und
Engels, eine Schmittlein, Lehmann oder Sorma zu den höchsten Auf-
gaben befähigen, so hat Herr Reicher auf die mühelose Darstellung
classischer Gestalten wohl ein- für allemal verzichtet und sich eine
äusserliche Natürlichkeit componirt, die ihm die Durchführung einiger

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 511, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-13_n0511.html)