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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 512

Text

512 KRAUS.

episodistisch veranlagter Salonrollen eben noch gestattet. Mit dem
literarischen Umsturzprogramm dieses kühnen Neuerers ist es
übrigens nicht weit her, wenn er Hermann Sudermann als den
typischen Vertreter des modernen Dramas bezeichnet und Schiller
gegenüberstellt. Das geringfügige Raffinement, über welches dieser
Schauspieler verfügt, reicht für die fertigen Theaterrollen aus, die
Sudermann geschrieben hat. Schon an Sardou’s »Marquise« scheitert
die Technik des Berliner Gastes. Wo Knaack, eine tief humoristische
Natur, aus dem Vollen gestaltete, sucht sich Herr Reicher einen
Charakter zusammenzuleimen und seinen natürlichen Mangel an Humor
mit der Ausrede zu verbrämen, dass er Menschendarsteller, nicht
Komiker sei. Figuren wie die des Pommeau in Augier’s »Arme Löwin«
sind auf die eine grosse Scene gestellt. Der stereotype Thränenausbruch,
den unser unnatürlicher Sonnenthal hier anwendet, wie stark wirkt er
doch neben der kalten, unangenehm polternden Manier, in der der
langjährig betrogene Ehemann Reicher’s seine treulose Gattin anfährt!
Was verschlägt es, wenn Herr Reicher der äusseren Glaubwürdigkeit
zuliebe jedem geraden Satze etliche »Hm« beifügt? Solche Gestalten
liegen eben in der primitiven Leidenschaftslinie der älteren Burgtheater-
darsteller, mit Complicität ist ihnen nicht beizukommen.

So besann sich denn Herr Reicher auf seine Reputation und
führte uns auf »sein« Terrain, indem er für den dritten und letzten
Gastspielabend ein modernes Drama, Strindberg’s »Der Vater«
wählte. Die Wiener Schauspielkunst hat er hier vollends rehabilitirt,
Strindberg für Wien ein- für allemal unmöglich gemacht. Herr Reicher
hatte hier endlich Gelegenheit, zu beweisen, dass er vollständig unfähig
ist, aus seelischen Tiefen zu schöpfen, dass er, wo das Wort des
Dichters nur spärliche Anhaltspunkte liefert, aus Eigenem nichts zu
geben vermag. Hatte er bisher mit einer schlecht angebrachten
Lebensechtheit operirt, diesmal, im modernen Stück, suchte er sich
mit abgebrauchten Kniffen zu helfen. Wie ihm die Zwangsjacke die
Hauptsache an dem Charakter des Rittmeisters zu sein schien, so führte
er in provinzmässiger Missachtung der Absichten seines Autors einen
a priori-Wahnsinnigen vor, dem gegenüber das Vorgehen seiner Frau durchaus
nicht ungeheuerlich erschien und den er mit einer Fluth unbedeutender
klinischer Details überschüttete. Die Tragik, die wunderbarerweise von
der verbohrten Einseitigkeit des Strindberg’schen Standpunktes ausgeht,
verflüchtigte sich, und das mächtige Stück musste in der für theatra-
lische Zwecke zurechtgelegten Auffassung so anwidernd wirken, wie es
auf die entweder zu gesunden oder zu neurasthenischen Leute that-
sächlich gewirkt hat. Die herrlich klaren Gedankensätze Strindberg’s
wurden von Reicher in unverständliche Interjectionen zerhackt und die
Aeusserungen anschwellenden Gefühles von dieser allesgleichmachenden
Spielweise zu nebensächlichen Dialog Wendungen herabgedrückt. Wie
Lear vor Goneril, steht der Rittmeister vor seinem Weibe und fleht,
seinen Verstand behalten zu dürfen. Und wenn dann sein künstlich ge-
nährter Zweifel an der Geburt des Kindes — »Ja, du hast ihn wie

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 512, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-13_n0512.html)