Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 513
Text
Bilsenkrauttropfen in mein Ohr geträufelt und die Umstände haben
ihm Wachsthum verliehen!« — immer lauter wird, gelangt seine Seelen-
pein zu herzbewegendem Ausdrucke: »Ja, ich weine, obgleich ich ein
Mann bin. Aber hat ein Mann denn keine Augen? Hat ein Mann
keine Hände, Glieder, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? Lebt er nicht
von derselben Nahrung, wird er nicht von derselben Waffe verwundet,
fühlt er nicht im Sommer die Wärme und im Winter die Kälte gerade
wie das Weib? Wenn ihr uns stecht, bluten wir dann nicht? Wenn ihr
uns kitzelt, lachen wir dann nicht? Und wenn ihr uns vergiftet, sterben
wir dann nicht? Warum sollte ein Mann nicht klagen dürfen?« Von
dieser furchtbaren Abrechnung vernahmen wir ein paar unartikulirte
Laute, die Herr Reicher in seiner kaltschnäuzigen Art hinter die
Coulissen gebellt hat.
Und dieser Schauspieler, den wir, wenn wir ihn schon dem
Burgtheater gegenüberstellen müssen, höchstens, was die Unreinheit
seiner Aussprache betrifft, in Gegensatz zu Herrn Schreiner bringen
möchten, wird vor unseren Augen zum grossen Gegenwartsschauspieler
hinaufgeschwindelt. Eine Clique, deren Dreistheit nur von der Aus-
sichtslosigkeit ihrer Bemühungen übertroffen wird, ist unermüdlich am
Werke, ihn uns als den Modernen kat’ exochen aufzuoctroyiren und für
den effectiven Durchfall des Berliner Schauspielers alle erdenklichen
Ausreden herbeizuschleppen. Man geht so weit, die Schuld an der
Minderwerthigkeit der Reicher’schen Darbietungen einer Geschmacks-
verschiedenheit des Berliner und des Wiener Publicums zuzuschreiben;
aber jeder nur halbwegs geübte Theatergänger könnte es bezeugen,
dass in Reicher nicht der specifisch norddeutsche Schauspieler refusirt
worden ist und dass überdies die Mundart, die er beherrscht, weit eher
nach Kolomea als nach Berlin weist. Freilich werden wir hier in Wien
jener leidlich klugen Menschen zuerst überdrüssig, die, anstatt uns mit
Hasenhäuteln zu bemogeln, lieber Agenten der Kunst geworden sind und
uns mit entschieden nasaler Betonung einen Handel mit Seelenzuständen
offeriren. Diesen flinken Naturalismus der Individualitätslosigkeit haben
wir an derselben Stelle nach einander an Herrn Bonn, der aber doch mehr
Theaterblut hat, an Zacconi, der aber der imponirende Techniker ist, und
unmittelbar vor Herrn Reicher an Antoine genossen. Alle vier sind gleich
steril, in gleicher Weise unfähig, unsere Schauspielkunst wahrhaft zu be-
fruchten, und es ist bezeichnend, dass Herrn Reicher, dem seichtesten
unter ihnen, dessen Entlarvung uns noch leichter gelingt als ihm die Dar-
stellung der classischesten Rolle, unter allen Wienern just die sogenannten
»Kenner« aufgesessen sind. Ihr Führer, Hermann Bahr, erzählt uns, dass
Reicher hier gesiegt hat, wiewohl wir »auf die Berliner in der Kunst
kein Vertrauen haben«, und dem Gaste, dessen einzige Neuerung darin
besteht, dass er sich, wenn ihm das Gefühl versagt, im richtigen Mo-
mente ein dem Leben abgelauschtes Räuspern einzulegen weiss, rühmt
er nach, er habe »die neue Art der Jugend, zu denken, zu fühlen und
es zu äussern, auf die Bühne gebracht«. Wie Alles und Jedes, seitdem
er Goethe gelesen, hat auch das Auftreten Reicher’s Herrn Bahr »eine
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 513, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-13_n0513.html)