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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 514

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514 KRAUS.

tiefe Empfindung vom Leben« eingegeben. Eine so gewaltsam nach-
denkliche Natur wie Herr Bahr musste unter der Spielweise des Ber-
liner Episodisten empfinden, »dass der Mensch doch von selber gar
nichts ist, sondern Alles werden kann, gut oder böse, edel und gemein,
glücklich oder elend, wie ihm eben das Schicksal das Zeichen gibt«.
Dass doch der Kritiker von selber gar nichts ist, sondern Alles werden
kann, gut oder schlecht, modern oder unmodern, je nachdem, was er
eben in der vorigen Woche gelesen hat! Auch auf den zu beurtheilenden
Schauspieler überträgt sich dieser eigenthümliche Subjectivismus; waren
Goethe’s Gespräche mit Eckermann die Lectüre Hermann Bahr’s, so
erhält der Darsteller eine ganz andere Weltanschauung zugewiesen, als
wenn er beispielsweise gerade unter Hebbel’s Einfluss auf Bahr gespielt
hätte. — Wenn ich bisher, bei rückhaltloser Anerkennung der ihm inne-
wohnenden Fähigkeit, sich durchzusetzen, sein literarisches Gehaben
einigemale verurtheilt habe, so bin ich allenthalben auf Widerspruch ge-
stossen, indem man mir einwandte, Bahr habe doch Leben in die
heimischen Literaturverhältnisse gebracht. Ich habe die diesbezüglichen
Verdienste des Herrn Bahr nie unterschätzt und bin es mir wohl be-
wusst, dass er, während hierzulande Alles stagnirte, mehrere junge
Leute angeregt hat, undeutsch zu schreiben, und, ein Hecht im Karpfen-
teich, auch durch die weimarische Ruhe, die er sich seit etlichen Mo-
naten gönnt, Bewegung in das junge Oesterreich gebracht hat. Gerne
sei auch zugegeben, dass er, je weniger er von den Dingen, über die
er schreibt, zu verstehen beginnt, desto beliebter wird. Ein gut Theil
seiner Popularität verdankt Herr Bahr freilich seiner markanten Per-
sönlichkeit, die er jetzt öfter hervortreten lässt. So las er kürzlich seine
Skizze »Die schöne Frau« im Bösendorfer-Saale und wiederholte sie
auf allgemeines Verlangen gelegentlich eines Banketts der »Concordia«;
er liest sie jederzeit, bei günstiger Witterung auch auf der Terrasse. In
den massgebenden Kreisen, also bei den Leuten, die bei Schauspieler-
abenden mitthun, hat sich nach und nach die Ueberzeugung bahn-
gebrochen, er sei »ein lieber Kerl«, und die ältesten Reporter beginnen
bereits diesem Standpunkte beizupflichten. Ihm, der über das »Grobe
Hemd« einen begeisterten Artikel schreibt und bald darauf Strinds-
berg’s »Vater« kurzweg »ein sehr dummes und ganz schlechtes Stück«
nennt, müssen bald die Sympathien Aller zufliegen. Oder sollte er in der
Inscenirung des Gegenwartsschauspielers zu weit gegangen sein? »Hat man
das Glück, Reicher in dieser Rolle zu sehen,« ruft er aus, »dann ist
man bereit, Strindberg für einen Dichter und den »Vater« für ein
Trauerspiel zu halten!« Sollten Versicherungen wie diese auch dem
wohlwollendsten Leser mit der Zeit lästig werden? Nun, man ver-
gesse nicht, dass Bahr seinem Reicher, dem Reicher seines Ruhms,
ein solches Lob, und sei es auch auf Kosten eines Strindberg, schuldig
ist. Ihm, der alle Welt entdeckt hat, ist es zugestossen, selbst einmal
entdeckt zu werden; in treuherziger Weise gesteht er es ein, dass
Reicher es gewesen, der ihn, als Bahr noch »ein kleiner Scribent war,
von dem man nichts wissen wollte, an der Hand genommen und, ein

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 514, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-13_n0514.html)