Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 519

»Horatius travestitus« Szczepanski,»Srebrne noce«

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 519

Text

KRITIK. 519

bedeutet das schmucke Heft mehr
als einen Studentenscherz, darum
muss es in launiger Stunde ein
Dichter geschrieben haben, der
aufwärts steigt. H. H.

Srebrne noce. (Silberne
Nächte.) Lunatica von Ludwik
Szczepanski. Verlag von F. Bondy
in Wien und G. Centnerszwer
in Warschau. 1897.

Die polnische Moderne ist noch
eine junge, in blühender Entfaltung
begriffene Bewegung, die erfreu-
licherweise von Stunde zu Stunde
wächst, und der es bald gelingen
dürfte, eine umprägende, bahn-
brechende Evolution herbeizuführen.
Neben Miriam und Anton Lange
ist es das Verdienst des in Wien
wirkenden Ludwik Szczepanski,
durch feinsinnige Essays und kriti-
sche Aufsätze wie durch zahlreiche
Nachdichtungen aus fremden Litera-
turen das Interesse für diese Be-
wegung genährt und gefördert zu
haben. Doch Szczepanski ist nicht
nur Aesthet und trefflicher Ueber-
setzer, sondern auch ein Dichter
von unzweifelhaften Qualitäten.
»Silberne Nächte«, »Lunatica« be-
titelt sich ein Band seiner erst
jüngst erschienenen Gedichte. Es
sind feine, stimmungsvolle Verse
von einer stillen, schüchternen
Schönheit, Verse, die von den
Extasen der Seele, von der fernen,
bleichen Sehnsucht und der ewigen,
flammenden Liebe erzählen. Die
leichte, tändelnde Form vermählt
sich der wirbelnden Fluth des Ge-
dankens. Rondo und Rondolett,
Carillon und Rittornell wechseln
in angenehmer Folge. Selbst der
banale Vierzeiler gewinnt an Wir-
kung. Wir blättern in dem lyri-
schen Traumbuch eines Phantasten,
der in stiller Nacht, wenn der Mond

sein violettes, melancholisches Licht
gleich einem Silberschleier über
die Erde breitet, einsame Wiesen
und verzauberte Gärten durch-
wandelt, steile Bergeshöhen er-
klimmt und das Dickicht des
Waldes aufsucht oder im trau-
lichen Stübchen den Becher schwingt
und ihn an den des geliebten
Mädchens klingen lässt. Aus der
schimmernden Mondferne weht ihm
ein Liebeshauch entgegen, der ihn
trunken macht und sein Blut in
fiebernd-wilde Wallung bringt.
Das Mysterium des Traumes er-
füllt seine Seele, und die weissen
Maiblumen und die bleiche Nacht-
viole, die müden Akazien und die
glühendrothen Rosen, die strahlen-
den Bronnen und die marmornen
Nymphen träumen mit ihm. »Einer
Fernen, Unbekannten« ist sein Lied
gewidmet. Er nennt es eine in der
Liebesumarmung halb welk ge-
wordene Zauberblume, die er vom
Schosse einer „verwunschenen Kö-
nigstochter“ geraubt; er vergleicht es
mit einem blassen, traumgeküssten
Kind der Stadt, das nach Ruhe
lechzt und sich aus dem dumpfen
Gewühl in einen Zauberhain rettet,
wo im Schatten der Bäume die
Satyrn lächeln und auf dem weiten
Wiesenplane die Elfen ihren Reigen
tanzen, und das erst wenn die
Abendnebel die Stadt verhüllen, halb
traumverklärt, halb ironisch lächelnd
zurückkehrt. Nicht nur das lyrisch
Weiche und Zarte ist des Dichters
Eigenart; er liebt auch das Gro-
teske, das Lachen des Harlekin
wie die blaue Blume der Romantik.
Paul Verlaine und Albert Giraud
dürften seine Meister gewesen
sein. Dennoch versteht er es, seine
Individualität zu wahren, und gleich
Tetmajer und Przesmycki wird auch

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 519, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-13_n0519.html)