Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 560

Vincenz Chiavacci — entdeckt

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 560

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560 NOTIZEN.

denken. Nachdem sich nun Bahr
über das »Geheimniss der Wirkung
dieser Frau Sopherl« beruhigt hat,
geht er daran, das neueste Buch
Chiavacci’s, »Weltuntergang«, zu
deuten. »Seit Jahren«, ruft er aus,
»hat kein Werk auf das Beste in
mir so tief und rein gewirkt!«
Tief und rein! Chiavacci hat es
sich wohl nie träumen lassen, dass
diese beiden Adjectiva, die seit
etwa drei Jahren von jenen Leuten,
die weder tief noch ein reines
Deutsch schreiben können, auf
alle modern literarischen Erschei-
nungen angewendet werden, auch
ihm einst zugefügt werden sollten.
Ein Chiavacci, der gedeutet werden
muss, der sich nicht damit begnügt,
Horaz zu sein, und seine Ernen-
nung zum Maeterlinck nothwendig
macht! Und warum dies Alles?
Der gemüthliche Wiener Autor hat
— ein hochdeutsches Buch ge-
schrieben. Bahr hat es gelesen und
»möchte«, wie er betheuert, »vor
Freude weinen«. Ihm war bei der
Lectüre, als ob »das Elend unseres
Daseins von ihm wiche und tröst-
lich sah er es vor sich glänzen«.
Er spricht von Chiavacci’s »unbe-
schreiblicher Macht«, citirt eine
längere Stelle aus dem Buche, die

»zum Grössten gehört, das in
unserer Zeit empfunden«, und ver-
steigt sich so zu einem Hymnus, der
zum Lächerlichsten gehört, das in
seiner Zeit ausgesprochen worden
ist. Mit all dem bereitet Herr Bahr
uns weder eine Sensation noch
auch eine Enttäuschung. Wir haben
es begreiflich gefunden, dass er
über eine Leistung des Fräulein
Wachner »keine Worte« fand, dass
ihm das Gastspiel des Herrn Reicher
im Carltheater eine tiefe Empfin-
dung vom Leben eingab, und hören
ihm geduldig zu, wenn er jetzt an-
kündigt, dass die Gestalt Chiavacci’s
wie ein weisser Engel mit ihm
durchs Leben gehen werde. Wir
sehen gelassen der Entdeckung
Paul v. Schönthan’s entgegen und
haben uns mit dem Gedanken
vertraut gemacht, gelegentlich auch
einmal von der neuen Note des
Julius Löwy zu vernehmen. Was aber
sagen die Jünger? Werden sie, nach
deren Meinung Herrn Bahr die
modernen Angelegenheiten des
Landes anvertraut sind, ihm end-
lich ihr Misstrauensvotum geben
und es officiell ablehnen, sich in
Zukunft von ihm entdecken zu
lassen? Alpha.



Herausgeber und verantwortlicher Redacteur: Rudolf Strauss.

Ch. Reisser & M. Werthner, Wien.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 560, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-14_n0560.html)