Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 608
Text
Von Walt Whitman (New-York).
Deutsch von Marie Lang.
Wieder ein Tag, frei von jeder ausgesprochenen Abspannung, von
Schmerz. Es scheint wirklich, als ob vom Himmel Nahrung und Friede
ganz fein in mich hineinsickerten, während ich die ländlichen Wege
querfeldein in der guten Luft hinhumpele — oder hier sitze in
Einsamkeit mit der Natur — der freien, lautlosen, mystischen, weit
entfernten und doch greifbar nahen, beredten Natur. Ich tauche hinein
in die Landschaft, in den vollkommenen Tag. Ueber das klare Bach-
wasser geneigt, beruhigt mich sein sanftes Gurgeln an einer Stelle, sein
rauheres Murmeln am drei Fuss hohen Fall an einer anderen. Kommt,
ihr Trostlosen, denen noch irgend eine verborgene Möglichkeit inne-
wohnt, kommt, empfangt die unfehlbaren Heilkräfte vom Flussgestade,
von Wald und Feld. Zwei Monate (Juli und August 1877) habe ich
sie eingesogen, und sie beginnen, einen neuen Menschen aus mir zu
machen. Alle Tage Abgeschiedenheit, alle Tage mindestens 2—3 Stunden
der Freiheit, Bäder, kein Gespräch, keine Bande, keine Kleider, keine
Bücher, keine Manieren.
Soll ich dir sagen, Leser, wem ich meine bereits wieder bedeutend
gebesserte Gesundheit zuschreibe? Dass ich nahezu zwei Jahre ohne
Latwergen und Arzneien da und dort und täglich in der frischen Luft
war. Vergangenen Sommer fand ich auf der einen Seite nahe bei meinem
Fluss ein besonders abgelegenes, kleines, schattiges Thal, das ursprünglich
eine breite, ausgegrabene Mergelgrube, jetzt aber verlassen und mit Busch-
werk, Bäumen, Gras, einer Gruppe Weiden, ungleichmässigen Sandstellen
und einem Springquell köstlichen Wassers angefüllt war, der mit zwei
oder drei kleinen Cascaden gerade mitten hindurchfloss. Hierher zog
ich mich an jedem heissen Tage zurück und diesen Sommer thu ich’s
ebenso. Hier verstehe ich erst ganz, was der alte Geselle meinte, der
sagte, er sei nie weniger allein, als wenn er allein sei. Nie noch kam
ich der Natur so nahe, nie zuvor war sie mir so nahe gekommen. Aus
alter Gewohnheit notirte ich mit dem Bleistift von Zeit zu Zeit, beinahe
automatisch, an Ort und Stelle Stimmungen, Scenerien, Stunden, Töne,
Umrisse. Besonders möchte ich der Befriedigung dieses heutigen Vor-
mittages eingedenk sein, der so heiter und so einfach war, so gewohnt
ungewöhnlich, so natürlich.
*) Aus den »Specimen Days in America«. Skizzen aus verschiedenen Tagen,
die hier ausgewählten aus der Zeit, da Walt Whitman 58 Jahre alt und in Folge
der Strapazen, die er während des Bürgerkrieges als freiwilliger Pfleger in den
Spitälern ertragen hatte, gelähmt, in den Wäldern von Delaware Erholung suchte.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 608, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-16_n0608.html)