Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 610

Ein Sonnenbad Die Eiche und ich (Whitman, WaltWhitman, Walt)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 610

Text

610 WHITMAN.

zu Zeit in den beiden letzten Sommern so verbrachten Stunden schreibe
ich meine theilweise Genesung im weitesten Masse zu. Einige gute
Leute mögen glauben, es sei eine kraftlose oder halbverrückte Art,
die Zeit und sein Denken zu verbringen. Mag sein.


DIE EICHE UND ICH.
Von Walt Whitman.

5. September 77. — Ich schreibe dies Vormittags 11 Uhr im
Schutz einer dichten Eiche am Ufer, unter die ich vor einem plötzlichen
Regen geflüchtet bin. Ich kam hier herab (wir hatten den ganzen
Morgen unfreundliche Schauer, seit einer Stunde aber sanft rieselnden
Regen) wegen der einfachen täglichen Uebungen, die ich liebe — mit
diesem jungen Walnussstämmchen hier draussen zu ringen — seinen
aufrechten zähholzigen Stamm zu beugen und langsam wieder zurück-
schwingen zu lassen, um vielleicht etwas von seinen elastischen Fasern
und seinem klaren Saft in meine alten Sehnen zu kriegen. Ich stand
auf der Wiese und betrieb dieses Gesundheitsringen allmälig und in
Zwischenräumen beinahe eine Stunde lang und athmete tiefe Züge
frischer Luft ein. Wenn ich am Flussufer umherwandere, habe ich drei,
vier Lieblingsplätze, wo ich verweile — ausser einem Stuhl, den ich
für längere Ruhezeiten mitschleppe. An andern passenden Stellen habe
ich nebst dem erwähnten Walnussbaume kräftige Zweige von Buchen
und Stechapfel in leicht erreichbarer Höhe, zu meiner Naturgymnastik
für Arme, Brust- und Rumpfmuskeln ausgewählt. Bald fühle ich, wie
Saft und Sehnen in mir emporsteigen wie Quecksilber in der Wärme.
Ich halte mich zärtlich fest an Ästen oder schlanken Bäumen hier in
Sonne und Schatten, ringe mit ihrer unschuldigen Urkraft und weiss,
dass die Kraft davon von ihnen auf mich übergeht. (Oder mag sein,
dass ein Austausch zwischen uns stattfindet, mag sein, die Bäume
werden von all dem mehr gewahr, als ich je dachte.)

Doch nun in freundlicher Gefangenschaft unter der mächtigen
Eiche — während der Regen tropft und der Himmel mit bleiernen
Wolken bedeckt ist — nichts als den Teich auf einer Seite, auf der
anderen ein Stück Rasen, von milchweissen Blüthen der wilden Rübe
gesprenkelt — der Klang einer Axt von einem entfernten Holzstosse
her — inmitten dieser langweiligen Umgebung (so würden sie viele
Leute finden,) warum bin ich hier und so allein fast glücklich? Warum
würde jeglicher Eindringling, selbst Menschen, die ich liebe, den Zauber
stören? Aber bin ich denn allein? Zweifellos kommt eine Zeit — viel-
leicht ist sie jetzt über mich gekommen — wo man durch sein
ganzes Wesen hindurch und besonders in den Gefühlscentren die
Identität des subjectiven Ich und der objectiven Natur gewahr wird,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 610, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-16_n0610.html)