Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 609
Text
So beiläufig eine Stunde nach dem Frühstück ging ich meinen
Weg zu dem Versteck des vorerwähnten kleinen Thales, welches ich
und ein paar Drosseln und Kolibris und andere Vögel ganz zu Eigen
hatten. Ein leichter Südwestwind blies durch die Baumwipfel. Es war
gerade der Ort und die Zeit für mein adamitisches Luftbad und
Körperbürsten von Haupt zu Füssen. So hing ich meine Kleider auf
den nächsten Pfahl, behielt meinen breitrandigen, alten Strohhut auf
dem Haupte, bequeme Schuhe an den Füssen — was hab’ ich da für
prachtvolle zwei Stunden gehabt! Erst mit den elastisch steifen Borsten
Arm, Brust und Seiten gebürstet, bis sie scharlachen wurden, dann
stückweises Baden im klaren Wasser des fliessenden Baches, Alles mit
Musse vorgenommen, mit vielen Rasten und Pausen, alle paar Minuten
lief ich barfüssig herum, hie und da in den nahen, schwarzen Schlamm
hinein, als fettes Moorbad für meine Füsse, — ein kurzes zweites und
drittes Abspülen im krystallenen, fliessenden Wasser, folgte, dann Abreiben
mit dem duftenden Handtuch, — langsame, nachlässige Promenaden über
die Wiese, auf und nieder im Sonnenschein, abwechselnd mit gelegent-
lichem Ruhen und weitere Frictionen mit der Borstenbürste. Manchmal
trug ich meinen Feldsessel von Platz zu Platz, da mein Gebiet hier
ein ziemlich bedeutendes ist, fast 100 Ruthen, und da ich mich vor
jedem Eindringen gänzlich sicher fühle (dann wahrhaftig, ich werde gar
nicht nervös bei dem Gedanken, wenn es zufällig passiren sollte).
Als ich langsam über den Rasen hinschritt, kam die Sonne heraus,
gerade genug, um zu zeigen, wie mein Schatten sich mit mir bewegte.
Irgendwie schien ich mir mit Allem und Jedem ringsumher in seiner
Wesenheit identisch zu werden. Die Natur war nackt, und ich war es
auch. Es war zu mussevoll wonnig, freudig-ruhig, um darüber zu spe-
culiren, doch ich könnte ungefähr folgendermassen gedacht haben:
Vielleicht ist der innere, nie verlorene Rapport zwischen Erde, Licht,
Luft, Bäumen und uns durch Augen und Geist allein nicht herzustellen,
sondern durch unser ganzes körperliches Wesen, welches ich nicht
geblendet und verbunden haben will, ebensowenig wie meine Augen.
Süsse, gesunde, ruhige Nacktheit in der Natur! Ach, wenn dich doch
die arme, kranke, kitzliche Menschheit in den Städten wirklich noch
einmal kennen lernen würde! Ja, ist denn Nacktheit nicht indecent?
Nein, nicht an sich. Es sind euere Gedanken, euere Sophistik, euere
Angst, euere Ehrsamkeit, die indecent sind. Es gibt Stimmungen, in
denen uns unsere Kleider nicht allein zu lästig zu tragen, sondern
selber indecent erscheinen. Vielleicht hat wahrhaftig er oder sie, denen
die freie, fröhliche Ekstase der Nacktheit in der Natur niemals möglich
war (und wie viel Tausende solcher gibt es!) niemals wirklich gewusst,
was Reinheit ist, noch was Glaube oder Kunst oder Gesundheit wirklich
sind. (Wahrscheinlich stammt der ganze durch die alte, hellenische Race
zum Ausdruck gebrachte Lebenslauf der edelsten Philosophie von
Schönheit, Heldenthum und Form, jene höchste Höhe und tiefste Tiefe,
die der Civilisation auf diesen Gebieten bekannt ist, von jener natür-
lichen und religiösen Anschauung der Nacktheit her.) Vielen von Zeit
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 609, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-16_n0609.html)