Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 652
Text
mir selbst diese Hälfte noch! O, mein redlicher Vater! Glaubt nicht,
dass mich ein Wahn bethört, dass ich mich täusche über das Los, das
mich erwartet. Ja, ich seh’s, ich seh’s, es wird eine traurige Zeit kommen.
Einst werd’ ich fühlen, dass ich ein Mensch bin und den Menschen
nicht entbehren kann. Und meine Mutter wird im Grabe liegen, und
mein alterndes Herz wird frieren und schaudern vor der Nähe des
Winters. Da werd’ ich ein Weib nehmen; das wird eine gute, häusliche
Seele sein, die es herzlich mit mir meint und treu das Meinige ver-
waltet. In der friedlichen Ehe mit ihr werden meine Jahre so hingehen,
und man wird nimmermehr hören, dass Meister Messis in einen Fluss
gesprungen, man wird aber auch nicht hören, dass er je gelächelt oder
unter Freunden seinen Becher mit Vergnügen geleert. In dieser Oede
meines Lebens werd’ ich dann oft an Euch denken, Meister Memling,
und an Dorothea und an das schöne, herrliche Köln am Rhein! Dann
wird wochenlang kein Pinsel berührt, denn ich habe nichts zu thun, als
in meiner einsamen Kammer still zu weinen. — Aber noch ist es nicht
dahin gekommen! Noch steh’ ich auf der Höhe meiner Kraft und meiner
Jugend! Soll ich unterkriechen vor der Zeit? Soll ich in feiger Furcht
vor meiner kommenden Verzweiflung mich verstecken im Hause Hilde-
balds? Soll ich die Liebe dieser Jungfrau auf Wucher legen für mein
dürftig’ Alter? Nein. Meister, nein! Noch bin ich selber reich und
überreich! Lasst mich verschwenden in der Fülle meines Muthes! Das
Glück für den, der sonst nichts eigen hat! Ich trage die Vergangen-
heit noch heiss und lebensvoll in allen meinen Adern. Gott hat mir
diese Leidenschaft gegeben in Blitz und Donner, wie auf Sinai sein
steinernes Gesetz dem schlecht’sten Volke, um es zum ersten in der
Welt zu machen, wie unter Flammenfall und Erderschütt’rung der Geist
des Himmels eine Fischerschaar, um eine neue Menschheit zu ge-
bären. Aus tiefem Abgrund des gemeinen Loses hat sie zum höchsten
Handeln mich berufen — sie ist ein heil’ger Schatz, ich darf sie
nicht verkaufen und verpfänden! — Erwarten muss ich, bis er seiner
Macht Vollstreckerin, der Zeit, gebietet, sie still in meinem Herzen
auszulöschen; — was dann mein Los, ich frag’ und fürcht’ es nicht!
Die Zukunft komme, das Geschöpf steht in der Hand des Schöpfers!
(Er geht ab.)
Ende des IV. Aufzuges.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 652, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-17_n0652.html)