Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 645

Eine seltene Begegnung Frau Sorge (Kromer, Heinrich ErnstMorgenstern, Christian)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 645

Text

EINE SELTENE BEGEGNUNG. 645

»So hätte also der Heiland mit Ihrer Verfluchung zu ewigem Leben
nur Gutes geschaffen?«

»Für mich gewiss! Freilich auf dem Weg der Selbsttäuschung und
ohne es im letzten Grunde zu wollen. Darin gleicht er — gleichfalls
wider Willen — einem andern Geiste —«

»Ich verstehe Sie «

»Doch muss ich ihm gerecht werden und gestehen: er hat immer
nur das Gute gewollt.««

Und dabei lächelte Ahasver.

»Eine Frage noch: Dürfen Sie auch heiraten, will sagen: das
Weib lieben und Kinder zeugen?«

Ahasver wurde heiter. »Wie können Sie nur fragen? Das gehört
doch Alles zum Leben, und zum Leben bin ich ja verflucht — Ver-
zeihung, ich wollte sagen: gesegnet!«


FRAU SORGE.

An das Marmorkreuz des Liedes
Schlag’ ich düster dich, Frau Sorge,
Mit den Stricken meiner Verse
Schnür’ ich fest dir die Gelenke.

Magst als Standbild dann in meinem Vorraum
Mit den andern Götterbildern stehen,
Und statt deiner kalten Arme werden
Grazien mich als ihren Freund umschlingen.

Lächle nicht so starr und grausig!

Weh! das Marmorkreuz des Liedes
Trägt dich nicht und sinkt und neigt sich
Gegen mich und wird mich tödten
Und als Grabstein mich bedecken

Berlin. Christian Morgenstern.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 645, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-17_n0645.html)