Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 644

Eine seltene Begegnung (Kromer, Heinrich Ernst)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 644

Text

644 KROMER.

Da ich schwieg und nichts einzuwenden wusste, fuhr er fort:

»Eine Ahne von mir soll den Alkibiades geliebt und einen Sohn
mit ihm gehabt haben. Und eine Ader von diesem Mann hat immer
in mir geschlagen. Nach einem Leben voll Reichthum, Pracht und
Kunst, voll Schaffens- und Genussfreude hätte ich nun mit eins ein
Entsager und Dulder werden und unter lauter dürftigen Menschen
verkehren sollen? Das verlangten damals nur Wenige im Staate; und
gegen diese stand die Polizei «

»Sie wandten sich also weg, und darauf verfluchte Sie der Heiland,
wie die Sage berichtet.«

»Ja, er verfluchte mich!«

»Nie zu sterben und ewig auf Erden zu wandern?«

»Ewig zu wandern, ja!«

»Hat sich der Fluch erfüllt?«

»Wie Sie sehen, mein Herr; glücklicherweise!«

»Fühlten Sie den Fluch sogleich wirken?«

»Ich glaube, ja!«

»Und wie denn?«

»Ich empfand eine seltsame Stärkung und ein Wohlgefühl, wie
es nur der kennt, der nach schweren Schicksalsschlägen sich stolz
wieder erhebt mit dem Bewusstsein, nun erst recht weiterzuleben und
nicht zu unterliegen.«

»Also nicht Angst, nicht Schrecken, noch die furchtbare Aussicht
auf ewige Qual?«

»Ganz das Gegentheil!»

Erstaunt über das Vernommene und voll Bewunderung dieses
Mannes schwieg ich einige Zeit; dann trieb mich wieder die Wiss-
begierde, und ich fragte weiter:

»Sie sagten vorhin, der Fluch habe sich erfüllt, und fügten hinzu:
glücklicherweise!«

»Nun ja, ich sagte Ihnen doch, wie das Wort des Nazareners auf
mich wirkte: Beglückend — möchte ich sagen — im höchsten Sinne
des Wortes. Nun war mir mit einemmale die Aussicht und die Mög-
lichkeit gegeben, alles noch ungesehene Menschenthum, alles noch un-
gesehene Menschenthun zu sehen, zu erleben, mitzuempfinden, mitzu-
thun! War das nicht ein Glück? Nicht das Leben selber? Oder was
verstehen Sie denn anders unter Leben?«

»Was sollte dann also der Fluch? Der Heiland wollte Sie doch
strafen, wenn ich recht verstehe.«

»Die Sage sagt es, und die könnte es wissen,« entgegnete Ahasver
mit feinem Lächeln. »Für den Nazarener, dem das Leben eine Last,
der Tod eine Lust, eine Erlösung, der Eingang in die ewige Seligkeit
war, musste das ewige Leben auf dieser Erde, wozu er mich verfluchte,
die schrecklichste Qual, die schwerste Strafe bedeuten. Mir aber, der
das Leben immer liebte, musste seine Ewigsprechung das Glück selber
sein und die Erfüllung meiner tiefsten Wünsche und geheimsten Hoff-
nungen.«

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 644, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-17_n0644.html)