Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 643

Eine seltene Begegnung (Kromer, Heinrich Ernst)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 643

Text

EINE SELTENE BEGEGNUNG. 643

ich Sie gestern Abend auch daraufhin anschaute; da ich Sie jetzt aber
als Menschen erkenne, bitte ich Sie, auch mich als solchen zu behandeln
und jeden Titel, auch den des ewigen Juden zu vermeiden.«

»Gern!« erwiderte ich. »Aber Sie sind doch — der ewige Jude?«

»Ahasver — meinen Sie? Ja gewiss!«

»Und nicht Jude?« fragte ich.

»Dazu, wie gesagt, haben mich erst die Deutschen gemacht.«

»Warum wollen Sie denn nicht Jude sein? Fürchten Sie sich vor
den Antisemiten? Oder sind Sie gar selber einer?«

»Nicht im Geringsten, mein Herr. Sehn Sie mich doch nur an,
ob ich Grund habe, den Juden in mir zu verleugnen!«

»Sie haben,« meinte ich, »viele Züge eines Griechen; Kinn und
Backenknochen aber wollen mir eines Römers scheinen.«

»Meine Ahnen waren Griechen; erst meine Mutter brachte römi-
sches Blut in unser Geschlecht.«

»Allein — Ihr Name, mein Herr? Ist der nicht —?«

»Den hat mir die Sage gegeben; und weil sie mich für einen
Juden ausgab und meinen richtigen Namen nicht kannte, taufte sie
mich jüdisch. Schliesslich gewöhnte ich mich daran und behielt den
Namen.«

»Sie waren aber bei der Kreuzigung Christi zugegen?«

»Nicht doch, mein Herr. Nur auf seinem Kreuzweg habe ich den
Nazarener gesehen. Ich kam gerade von einem Bacchanal, da begegnete
mir der Zug.«

»Und da verweigerten Sie dem Heiland die Ruhe, um die er Sie
bat? Er wollte sich doch auf die Bank vor Ihrem Hause setzen?«

»Das ist Legende. Der Nazarener sprach mich an, allein bevor
ich antworten konnte, musste ich mich abwenden, da ich sein leidendes
Gesicht und seine todessüchtigen Mienen nicht ertragen konnte.«

»Sah er sehr leidend aus?«

»Ich hatte nie Aehnliches gesehn. Drum war mir’s so ungewöhnt
und erschütterte mich so, dass ich fürchtete, sein Anhänger werden zu
müssen aus Schmerz und Mitleid mit ihm und aus Zorn und Rache
gegen seine Peiniger.«

»Warum wollten Sie das nicht? Wäre es Ihnen denn so schwer
gefallen?«

»Können Sie in einem Augenblick einen Tempel auf den Grund
niederreissen und im selben Augenblick wieder anders aufbauen? Dazu
hat sich selbst euer Heiland drei Tage auserbeten.«

»Aber viele Andere traten doch auch über?«

Ahasver zuckte die Achseln. »Die waren,« sagte er, »wohl seit
Langem schon dazu vorgeartet und erfüllten nur ihre Bestimmung. Was
aber sagten Sie dazu, wenn ich von Ihnen verlangte, aus einem
Künstler und freien Menschen ein Bureausasse oder eine Beamten-
nummer zu werden, und das mit Leib und Seele, mein Herr, wie ich
auch Alles immer mit Leib und Seele war?«

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 643, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-17_n0643.html)