Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 642

Eine seltene Begegnung (Kromer, Heinrich Ernst)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 642

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642 KROMER.

die Maschine kam plötzlich wieder in Gang, ohne dass ich’s verhindern
konnte, und begann zu surren und zu arbeiten wie ein ganzer Fabriks-
saal, so dass ich gerne dem schrecklichen Getöse entronnen wäre, hätte
ich’s nur vermocht. Weil ich aber wusste, dass uns in liegender Stellung,
insonders Nachts, die Gedanken oft zahlreicher anfallen als beim
Gehen, erhob ich mich und lief im Zimmer auf und ab, ohne Erfolg
jedoch; denn der Name Ahasver hatte in mir Stürme und Erregungen
aufgerufen, die mich Jahrhunderte und Völkerschicksale in Minuten
durchleben liessen und mir jene grosse, menschliche, hoffnungsvolle
Stimmung gaben, in der uns nichts mehr undenkbar noch unmöglich
und das Leben einen Werth nur zu haben scheint, wenn es das Höchste
wagt und vollbringt und an immer höhere Menschenmöglichkeiten
glauben lernt: Empfindungen, die mir eine Begegnung selbst mit dem
ewigen Wandrer Ahasver noch denkbar, Zweifelsucht aber und Ver-
neinung und unschöpferisches Nörgeln zur Sünde der Menschheit
machten.

Ich verbrachte die Nacht ohne Schlaf und fand Ruhe nur einige
Stunden in den wachsenden Tag hinein; aber keine Erholung folgte
ihr, und ich büsste die gefühlten Erlebnisse mit bleischwerer Erschöpftheit.
Ja, als ich gegen Mittag nach dem »Kaiserhof« ging, um Ahasver zu
besuchen, geschah es nicht so sehr mit Drang und Willen, als nur um
die mächtigen Empfindungen der vergangenen Nacht nicht ganz zu
verleumden.

Ahasver erkannte mich gleich beim Eintreten wieder, kam auf
mich zu und lud mich zum Frühstücke ein, freundlich und mit ein-
facher Natürlichkeit, so dass meine Meinung von ihm als einem
Schwindler oder Verrückten sogleich wich. Der Kellner brachte eine
Flasche Rheinwein und einige leichte Gerichte; und ungezwungen kam
dabei ein Gespräch in Fluss. Zum Voraus aber die Bemerkung, dass
ich meine Erwartung, die ich vorher künstlich noch etwas hoch-
geschroben, ein wenig getäuscht sah. Das war durchaus kein uralter,
verwitterter Jude, noch begann er sogleich, wie ich in meiner Seele
eigentlich gehofft, über Philosophie und ungelöste Welträthsel zu sprechen.
Ein etwa fünfunddreissigjähriger Weltmann sass da vor mir, der leichthin
über die alltäglichsten Dinge plauderte, über den Strassenverkehr in
unserer Stadt, so weit er die seit seinem kurzen Aufenthalte kannte,
über den Reichstag und seine neuesten Verhandlungen, über Russen
und Franzosen und ähnliche Dinge mehr, die er indess alle rasch ab-
that — wie mir dünkte, als ziemlich unbedeutend. Dabei verwirrte
mich immer das feine Lächeln, das jeweils um seine Lippen lief, so
oft ich ihn mit »Herr Doctor« ansprach, und endlich bat er mich,
diesen Titel nimmer zu brauchen, da er ihn nicht besässe, noch über-
haupt einen andern, ausser dem des ewigen Juden, den ihm auch nur
die Deutschen in ihrer Titelsucht aufgehängt hätten. Er bediene sich
solcher zwar, doch nur, um Andern den Umgang mit ihm zu erleichtern
oder gar zu ermöglichen, weil die oft den Menschen nur noch in seinem
Titel gelten liessen. »Und« — setzte er hinzu — »verzeihen Sie, dass

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 642, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-17_n0642.html)