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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 654

Text

654 KOTANYI.

Der Tag ist grau und vernebelt

Emil spricht leise und gedrückt griechische Verben

Ich denke an Blanche, ich lechze nach Blanche

O, das süsse Lachen, der weiche Blick.

Ich schreie nach ihrer Liebe, nach dem Kuss, mit dem sie mich
geküsst hat in jener fernen, einzigen Stunde damals, damals und
alle Tage gleite ich durch, bis ich an diesen leeren, vernebelten Winter-
tag komme mit seinem öden, scharfen Frost.

Wo ist sie? Warum sieht sie nicht herein? Wo ist die Blume
für mich, die Seide?

Ach, oft höre ich nur ihr Lachen im Flur, dann bin ich glück-
lich! — — Heute nichts

Und Emil spricht gedrückt die Verben, der Andere murmelt und
schreibt

Mit erstickter Stimme dictire ich, förmlich schluchzend

Wie ich mich schäme — elend bin ich.

Da der Schritt das Rauschen Emil stockt, ich stocke
Alles schweigt Sie tritt ein.

O, wie blass, wie schweigend, wie erloschen der lachende Blick
Meine Blanche, das bist du nicht. Sie geht so gerade, ohne Schweben
und Licht, so ohne Lächeln.

O, du, du

Da steht sie beim Tische, will lächeln, sucht nach Worten, nach
elenden Worten Niemals hast du Worte gebraucht, Liebste, du hast
die kleine, milde Hand gehoben, und ich habe verstanden Heute
brauchst du Worte

Emil sagt: »Ach mein Kopf, Blanche, mir ist so heiss.«

Sie sieht ihn verständnisslos an, und wie sie so gerne that, legt
sie die kleine, milde Hand auf seinen Kopf.

Oh täusche ich mich, sind diese Finger nicht ernst und traurig?

Ein breiter Reif, er funkelt, blitzt, er thut mir weh Dein Diamant,
Blanche, thut mir weh.

»Geh’, geh’, mein Junge.« — Warum sagt sie das?

Und Emil streift seinen Bruder scheu, der Kleine legt still die
Feder weg, sieht mich mit seinen sanften Augen an, und Hand in Hand
verlassen sie das Zimmer.

Sie steht, ich sitze, fasse das lateinische Dictat und corrigire.

Pfui, wie der Diamant funkelt.

»Herr Doctor,« sagt sie und ich fühle den Tisch beben.

Ich sage: »Wie, was « und springe auf und schau’ sie an. Ah,
wie kann die Sünde so schmerzlich sein, so schneebleich, so schmerzlich.

Fühlst du denn nicht, dass dein Schmerz dich tiefer in meine
Verachtung zwingt als deine Schlechtigkeit.

Ziehe deinen Teufel gross, Weib, und sei kalt und unverschämt.
Aber sündigen und seine Seele kränken und vor Schmerz erblassen und
sich züchtigen — wie mich dein Christenthum empört! Wozu bin ich
dagewesen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 654, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-17_n0654.html)