Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 656

Die skandinavische Literatur und ihre Tendenzen (Herzfeld, Marie)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 656

Text

DIE SKANDINAVISCHE LITERATUR UND IHRE
TENDENZEN.
Nach einem Vortrage, gehalten im Allgemeinen Oesterreichischen Frauenvereine
am 15. Mai 1807)
Studie von Marie Herzfeld.
(Schluss.) V.

Alle Rechte vorbehalten.

Der andere berühmte Norweger, der mit Brandes geht, hat
weniger Logik als Ibsen und mehr Temperament. Als Dichter ist
Björnson genial, als Denker mittlerer Durchschnitt. Sein Wissen ist
seicht und nur Gedächtnisssache —das Einverleiben und Einverseelen des
fremden Stoffes, das ein mechanisches Wissen zu unserer Bildung
macht, ist ihm gänzlich fremd. Seine Ideale sind ungefähr die Ideale
eines Parteimannes von der Couleur Eugen Richter’s, nur dass er viel-
leicht etwas weniger Atheist und etwas mehr Republikaner ist, als es
in Mitteleuropa Schick und Brauch. Denn Björnson ist Volksmann, ist
Führer des Volkes, Journalist und Redner, Tischredner und vor Allem
Volksredner. Er kann zehntausend Menschen fesseln, und nicht einer
darunter, den seine Worte nicht begeisterten und der seine Ideen nicht
verstünde. Er hat die kleinen Ideen und die grossen Worte, die auf
die Menge wirken. Er entzückt sie und er berauscht sich. Und er
freut sich so über diese Gabe, dass er kein Stück mehr schreibt ohne
Massen-Meeting: Bischofsversammlung und Volkszusammenrottung,
Arbeiterbesprechung und Fabrikantenberathung. Immer wird geredet,
und bei diesem vielen Redenhalten wird der Gehalt seiner Reden seicht
und seichter.

Anfangs der Siebzigerjahre hatte Björnson schon eine reiche
Dichterthätigkeit hinter sich. Er hatte seine Volkserzählungen ge-
schrieben, die als idyllische Poesie unvergänglich sind, eine Menge
prachtvolle Lyrik, Balladen, die sich an die edelsten Reliquien der
Volksdichtung reihen, und historische Dramen mit grossen Gestalten
und grossen Scenen. Nun war das aber Alles ein bischen unmodern
geworden, und Björnson, ein Skalde, sollte an der Spitze stehen. An
ihm war es, das Volk zu führen; nur hatte er just keinen Königs-
gedanken. Ein paar Jahre fiel ihm gar nichts ein. Da kam über den
Kattegat das richtige Recept. Eine lebendige Literatur bringt Probleme
zur Debatte. Ibsen hatte sogar ein Problemdrama geschrieben, bevor
Georg Brandes es ihm sagte. Es hiess sich beeilen und den Anschluss
nicht versäumen. Denn »Problemdrama« war gut. Der Skalde muss ja

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 656, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-17_n0656.html)