Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 657

Die skandinavische Literatur und ihre Tendenzen (Herzfeld, Marie)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 657

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DIE SKANDINAVISCHE LITERATUR U. IHRE TENDENZEN. 657

führen und belehren. Dichten allein genügte nicht; man musste auch
Ideen haben. Und natürlich Gesinnung. Und seither hat Björnson Bände
geschrieben — Dramen, Novellen und Romane — mit einigen Ideen
und sehr viel Gesinnung. Und wahre Meisterwerke dichterischer Ge-
staltungskraft scheitern ihm, weil die Ideen gar so kindisch und die
Gesinnung so philiströs. So das Doppeldrama »Ueber unsere Kraft«,
dessen erstes aus dem Jahre 1883 stammt. Ein wundervolles Stück:
die Geschiche vom Nordlands-Pastor Sang, der durch die Kraft seines
Willens und Gebetes Kranke heilt und Krüppel gehen macht, während
seine Frau nun seit Jahren lahm im Bette liegt; jedoch sie stammt aus
einem alten Zweiflergeschlecht, und das Wunder blüht nur aus dem
Glauben. Nun hat er seine Kinder kommen lassen; er will mit ihnen
einen Gebetring um die Kranke schliessen; da zeigt es sich, dass auch
die Kinder den Glauben verloren haben. Sie hatten draussen in der
Welt nirgends Christen gefunden; es gab nur einen Christen, und das
war ihr Vater. Doch eine Religion, deren Gebote unter Millionen nur
Einer erfüllen konnte, stammte die von einem allwissenden Gott? Sie
suchten und fanden ihre Ursprünge älter als das Christenthum; auch
das Christenthum war Menschenwerk. Der Pastor sagte darauf:
»Was beweist das Alles? Nichts gegen die Lehre, Alles gegen die Ver-
künder. Ist das Christenthum das Unmögliche oder sind es die Menschen,
denen der Muth fehlt, das Grosse zu wagen? Was ist dem unmöglich,
der glaubt?« Und er selbst wirft die letzten Zweifel von sich; er wird
das letzte Wunder wagen. Er wird in die Kirche gehen und beten und
nicht aufhören zu beten, bis Gott sein brünstiges Gebet erhört und
seine Frau auf zwei Füssen wandelt Er geht in die Kirche neben
dem Haus. Und die Bischöfe und Pastoren des Landes, die herbei-
gekommen waren, um über die Zulässigkeit dieses Mirakelunwesens
schlüssig zu werden, sie alle ergreift der heilige Geist, und sie beginnen,
von sich zu zeugen, und sie flehen, Alle flehen um das Wunder,
auf dass sie selber glauben können. Und siehe da — es öffnet sich eine
Thür und gegenüber eine andere — zwei verklärte Gestalten gehen,
wie magisch gezogen, auf einander zu — der Pastor und seine lahme
Frau. »Das Wunder, das Wunder!« Clara sinkt an ihres Mannes Herz
und gleitet nieder — todt. Das Wunder war über unsere Kraft. Und
nun der zweite Theil (1896). Gleichwie die alte Religion über das
Menschliche und seine Grenzen schweifte, so der neue Glaube des
Socialismus, ist Björnson’s These. Die Kinder des Pastors suchen Ersatz
für das verlorene Christenthum. Elias, ein Schwärmer, wird Socialist;
Rahel, verständig, wie es Frauenart, richtet Krankenhäuser ein — er
will die Menschheit erlösen, sie hilft den Menschen. Es entsteht ein
grosser Strike. Dem Bund der Arbeiter stellt sich ein Bund der Arbeit-
geber entgegen — die Armuth beweist sich als schwächer — auch als
innerlich schwächer; ihre Sache scheint verloren. Da beschliesst Elias,
ein Beispiel zu geben. Mit Märtyrerblut will er seine Ueberzeugung
besiegeln und die Genossen mit sich zur That fortreissen. Das Schloss,
in dem die Fabrikanten ihre constituirende Versammlung abhalten, ist

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 657, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-17_n0657.html)