Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 658
Text
unterminirt, und Elias sprengt sich mit den Feinden in die Luft. Und
das Resultat? Keines; nutzlos vergeudetes Blut. Denn auch hier war
das Ausserordeptliche über unsere Kraft. Aber die Moral davon? Ja,
— die Schwachen haben ohne Zweifel Recht. Allein auch die Starken
haben Recht. Was lässt sich da wohl thun? Zum Glück gibt es zwei
halbwüchsige Kinder im Stück — symbolische Kinder, wie schon ihr
Name beweist: sie heissen nämlich Credo und Spera. Er will Erfindungen
machen, sie wird Unterhaltungsvereine gründen. Wenn dann ein paar
Quadratmeter Landes genügen, einen Menschen zu ernähren, und man
Kleider aus Gras und Blättern macht und alle Leute fröhlich sind u. s. w.,
dann — ja, dann ist die sociale Frage gelöst. Gewiss. Und das hat die
Bourgeoisie uns von jeher gesagt. Die Sache ist aber gerade die, dass
die Welt nicht so lang warten will.
Derartig sind die Björnson’schen »Ideen« alle. Und nicht jede ist
so ungefährlich wie die von »Ueber unsere Kraft«. Dieses Stück hatte
wenigstens einen gigantischen Aufbau mit der allerfeinsten dramatischen
Dynamik, prachtvolle, reich ausgestattete Menschentypen, ergreifende
Scenen und eine starke Stimmung. Was lässt sich aber von einem
Tendenzstück wie »Der Handschuh« sagen, mit dem Björnson der
Ibsen’schen »Nora« den Rang ablaufen wollte? Mit dem er noch mehr
für die Frau thun wollte, als der Rivale, und noch erhabenere Ge-
sinnung zeigen? Von einem trockenen, technisch ungeschickten Stück,
aufgebaut auf der Forderung gleich strenger Keuschheit von Mann und
Frau? Die »Handschuhmoral« wurde die neueste Plattform der Emancipa-
tion. Und ausgegeben hatte die Parole ein Dichter — sonst war es
ein Vorrecht des Dichters, das Menschliche frei und gross aufzufassen,
mit reinerem Blicke, als es die im Staub kriechen thun — ein Dichter,
der sich in der Jugend keinen Zwang auferlegt hatte, und dessen asketi-
sche Moral nun sonderbare Correlate fand. Man sehe z. B. an, welche
Entwicklung in seinen Werken die Freude am Prügeln nahm. In den
Volkserzählungen seiner Jugend gibt es noch ganz gesunde, wenn auch
brutale Prügel; in »Man flaggt« (deutsch »Thomas Rendalen«) hat die
Prügelei schon einen anderen Charakter, gehört aber zu den genialsten
Zügen des Buches. Mit Björnson’s Jahren wächst jedoch das Vergnügen
am Ausmalen der Furcht vor schwebenden Prügeln, der ganzen Wollust
des Prügelns und Prügelnsehens, bis zu jener schändlichen Scene in
»Absalons Haar«, wo Harald Kaas seine vornehme, schöne, ungehorsame
Frau in Gegenwart des Hofgesindes öffentlich auspeitscht.
»Der Handschuh« hatte nur formulirt, was damals als Forderung
in der Luft lag. Es war nur logisch: Mann und Weib sind vor Allem
Mensch. Alle Menschen sind gleich, haben gleiche Ansprüche,
gleiche Rechte, also gleiche moralische Verpflichtungen. War daher nur
Sache des Geschmacks, ob man dem Weib die Freiheit des Mannes
einräumen wollte oder dem Mann die Tugend der Frau aufzwingen.
Consequenter war selbstverständlich das letztere. Da Satz für Satz der
Natur und Wirklichkeit widersprach, d. h. nur ein Postulat des Ver-
standes war, so musste der letzte Schluss auch gegen die Natur und
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 658, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-17_n0658.html)