Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 663

Die skandinavische Literatur und ihre Tendenzen (Herzfeld, Marie)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 663

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DIE SKANDINAVISCHE LITERATUR U. IHRE TENDENZEN. 663

in der Welt dieselben Klagen — von Bourget’s »Essais de Psychologie«
an bis zu Szienkiewicz’ »Ohne Dogma«. — Garborg’s »Müde Seelen«
sind die ergreifendste, umspannendste Spiegelung dieser Gemüths-
erkrankung unserer Zeit. Was ist ihnen Allen das Leben? Ein lang-
samer Schiffbruch, der Schiffbruch aller Wünsche, Hoffnungen, Aus-
sichten, Ideale, ein Schiffbruch der Persönlichkeit, ein Aufgeben des
eigenen Selbsts Stück für Stück. Alles aussichtslos, ohne Vor- und
Nachher, ein Umherirren ohne Zweck und Ziel und Steuer. Der Glaube
gab doch eine Art von Antwort auf unsere Fragen; die Wissenschaft
verzichtet auf das Fragen, weil sie keine Antwort findet. Mit der Re-
signation des »Ignoramus, ignorabimus« kann der Mensch nicht leben,
leben aber muss er, so will er lieber glauben. Und ist im Glauben,
im geoffenbarten Glauben, im heiligen Worte Ruhe zu finden? Gar-
borg schildert im Roman »Frieden« einen aufrichtig und mit voller
Seele Suchenden; es ist zwar nur ein Bauer, doch er weiss, dass sein
Heil und sein Leben daran hängt, dass er den inneren Frieden finde.
Doch nur Verwirrung packt ihn. Auch im christlichen Glauben ist
nicht Frieden. In einer neuen Arbeit Garborg’s ist das Thema jedoch
weiter gesponnen. Nicht im christlichen Glauben, sondern im christ-
lichen Thun ist Frieden. Nicht im Sündigfühlen, sondern im Heilig-
werden, nicht in Selbstbespiegelung, sondern in Selbstentäusserung. Im
Drama »Der Lehrer« befreit sich der Sohn jenes Bauers, der an seiner
Religion zugrunde ging, vom Wort des Evangeliums, er lebt im Geist
der Lehre. Er gibt dahin, was er hat, er theilt seine Arbeit, seinen
Trost mit den Anderen, die bedürftig sind. Wie ein Apostel geht er
durch die Welt, ein Bauernapostel, ein fleischgewordener Christus
Uhdes. Und er erleidet das Märtyrerthum, das auch heute die Welt
für ihre Erlöser bereit hält. Ist aber Leiden und Märtyrerthum ein
Gegenbeweis? Ich glaube nicht, dass Garborg just sagen wollte: »Gehet
hin, und thuet Alle desgleichen!« Viele Wege führen aus der Welt-
verzweifiung, jeder Mensch muss den seinigen suchen. Garborg hat
eine kleine Abhandlung geschrieben: »Der Glaube an das Leben«. Er
zeigt den Bankerott des Optimismus, der das Weltleiden nicht erklären
kann. Und er zeigt den Bankerott des Pessimismus, denn trotz aller
Leiden leben wir doch. Wir leben, und Alles lebt — lebt so viel und
so lang es kann — mit einer Energie, einem Eifer, einer Unermüdlich-
keit, die erstaunlich ist, in allen Verhältnissen, unter allen Umständen.
Das gibt doch zu denken; es muss im Leben etwas stecken, das
Leben muss etwas wollen — und wäre es nichts als das Leben; da
wir gegen das Leben doch nichts vermögen, so ergeben wir uns darein.
Ergeben wir uns darein, und nicht bloss mit Resignation, sondern mit
Frömmigkeit, folgen wir freudig seinen Winken und seinem Willen,
glauben wir an seinen geheimen Sinn, und es wird einen Sinn für uns
bekommen. Wir mögen das dann Religion nennen oder Mysticismus,
und was in uns wirkt, Leben, Natur oder Gott — genug, dass wir
den Glauben haben. — So Arne Garborg. Es ist die leise Stimme
eines Genesenden, die wir hören, der auf einen Stab gestützt, noch

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 663, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-17_n0663.html)