Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 662

Die skandinavische Literatur und ihre Tendenzen (Herzfeld, Marie)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 662

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662 HERZFELD.

lorenen Glaubens mit »naturwissenschaftlicher Erkenntniss« auszustopfen;
übrigens wurde sein Leben auch zu voll von Arbeit, um diese Lücke
stark zu fühlen. Er begann seine dichterische Thätigkeit. Es erschien
sein »Freidenker«, an dem er sich eigentlich erst frei geschrieben, dann
»Bauernstudenten«, eine unvergleichlich reiche und echte Culturstudie
voll sanfter Traurigkeit und Discretion in der Satyre, ein Stück Selbst-
durchpeitschung und Ablösung des schlechteren Theiles von sich, indem
er schildert, wie ein wildphantastischer Bauernjunge zu »Ueberzeugungen«
kommt und durch Snobismus zum Bourgeois emporsteigt und schliess-
lich eine Stütze von Staat und Kirche wird. Das war nicht ganz Arne
Garborg’s Weg. Er war durchaus keine Gesellschaftsstütze, trotzdem
er vom Storthing zum Staatsrevisor ernannt war. Er schrieb sich sogar
um Amt und Würden, um das tägliche Brot und die gute Meinung
braver Bürger, als er seinen Sittenroman »Mannfolk« herausgab, dieses
neben Jaeger’s »Kristiania-Bohême« berüchtigteste Buch Norwegens, das
er gewiss sich nicht zum Spass verfasst hat. Man nannte es ein un-
sittliches Buch, und es war nur ein Buch über Unsittlichkeit. Ein Buch,
geschrieben, um Nachdenken zu wecken und Wandel zu schaffen. Denn
zweierlei beherrscht die Lebewelt: Hunger und Liebe — am mächtigsten
der Trieb, sich selbst zu erhalten, und zunächst diesem der Trieb, die
Gattung zu erhalten. Die »Unsittlichkeit«, das ist nur der abgedämmte,
missleitete Liebestrieb, der in unserer Gesellschaft nicht zu seinem
Rechte kommt. Wenn man je diese »Unsittlichkeit« so in der Nähe
gesehen, dass es Einem, wie Garborg sagt, ein Schreck im Blut ge-
worden, so weiss man nur: es kann so nicht mehr weitergehen, und
es muss anders gehen. Daher will Garborg’s Buch eine sociale Um-
ordnung bewirken, damit es möglich werde, dass zwei Menschen jung
zu einander kommen. Und leichte Trennbarkeit der Ehe, damit sie
nicht zu Zwang und Heuchelei werde. Denn die Liebe könne die Erde
zu einem Garten Gottes machen, sagt er, und nun sei sie der Welt-
sumpf, der die Menschheit mit Pestilenz schlägt Und dann schrieb
er das Ergänzungsbuch zu »Mannfolk«: »Bei Mama« — die Geschichte
des armen Mädchens und des Zwangs der Verhältnisse, der auch bei
ihr die Liebe nicht zu ihrem Recht kommen lässt, ein Buch, an dem
sich Garborg krank und trostlos schrieb. Er kam nach Deutschland,
er lebte mit Socialisten, und sein Glauben an den Socialismus als den
Glückbringer, Schönheitsbringer wurde erschüttert. Andere Stimmen
waren in ihm wach geworden, und äussere Wirkungen kamen zu Hilfe.
Es begann in ihm eine philosophische Umwerthung seiner Erkenntniss.
Was gab uns die Naturwissenschaft? Erklärungen? Nur Facten. Die
Beschreibung der gewöhnlichen Aufeinanderfolge von Phänomenen. Ist
aber ein Phänomen auch wirklich ein Factum? Welchen Prüfungs-
massstab haben wir als unsere Sinne? Unsere armen Sinne!! Dieses
Stückwerk, das sie auffangen, und das unser Hirn so allzu menschlich
deutet — gibt es auch nur ein verlässliches Bild der Welt? Und
welchen Werth hat das Bild, wenn wir nur nach dem Sinn begierig
sind? Was sagt uns die moderne Weisheit: wozu das Alles? Rings

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 662, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-17_n0662.html)