Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 661

Die skandinavische Literatur und ihre Tendenzen (Herzfeld, Marie)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 661

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DIE SKANDINAVISCHE LITERATUR U. IHRE TENDENZEN. 661

wart der Kraft, von der der Mensch nur ein Theil ist, geheimnissvoll,
sphinxartig und weltüberschattend gross! Welche Tiefe und Bedeutung
hat dadurch Alles, was geschieht, und wie kindisch ist alles menschliche
Hasten und Streben! Wie bei Angelus Silesius ist bei ihm der Umkreis
ein Punkt und im »Samen die Frucht« enthalten, und das Leben ist
ihm der »ungewordene Gott«, der sich aus der Natur »herauswirkt«;
alle Weisheit also: grundgelassen sein, werden und zerwerden, wie
es in uns gelegt ist, und das Leben erleiden ohne Lächeln, doch auch
ohne Klagen. Das ist zwar nicht Christenthum, aber doch Religion,
zum mindesten Frömmigkeit im Sinne Goethe’s. Wieso auf einmal
dieses? Reaction. Reaction gegen die positivistische Dogmatik, Reaction
gegen den öden Skepticismus, Reaction gegen den ganzen Brandesia-
nismus — eine von den Reactionen, die Brandes als nothwendig be-
zeichnet hat. An Stelle des schweifenden Kosmopolitismus trat wieder
das Bedürfniss der Wurzelhaftigkeit, des Festverwachsens mit Race und
Boden. Man wurde vielleicht einseitiger, aber mehr zusammengefasst.
Das sympathische Verständniss umspannte minder viel, aber es bohrte
sich mehr in die Tiefe. Die Probleme erschienen nicht so klar, aber
sie wurden auch nicht so leichtsinnig aufgestellt. Denn der Mensch
war nicht so einfach, wie man es sich gedacht, und die Welt viel
tiefer. Ein Jonas Lie hatte das immer dumpf empfunden, ein Ja-
cobsen es immer klar gewusst. Wieso aber gab es nun Reaction auf
der ganzen Linie? Man hatte sich eben durchgezweifelt und durch-
gegrübelt und durchgelitten und Nietzsche, Du Prel, Ribot,
Binet, Lombroso, der Rembrandt-Deutsche und Garin hatten
als Nothhelfer und Befreier gewirkt. Die Etappen, die bis dahin zurück-
zulegen waren, studirt man am besten an Arne Garborg.

VII.

Arne Garborg hat innerlich so ziemlich Alles durchlebt, was in
den letzten zwanzig Jahren zu erleben war. Er kam nach Christiania
wie sein Daniel Braut, voll der rührenden Naivetät des grossen Bauern-
jungen, der Alles glaubt, was Stadtherren und Gelehrte sagen. Dabei
war er jedoch fromm, tief fromm. Und er wollte es bleiben, trotzdem
Brandes und die moderne Bibelkritik an seinem Glauben gar heftig
gerüttelt hatten. Er studirte theologische Werke, um sich daraus Waffen
au schmieden; dann schrieb er eine Apologie des Chnstenthums. Für
den Laien sah es wenigstens aus wie eine Apologie, doch in heim-
lichen Andeutungen legte er seine Zweifel nieder — für die Schrift-
gelehrten, die Zionswächter, damit sie ihn und seinesgleichen wider-
legten. Er wartete und wartete. Doch keine Antwort kam. Ganz ver-
zweifelt suchte er das Denken aufzugeben und nur in aller Einfalt zu
glauben. Da hörte er Björnson eine Rede halten »über das Leben in
der Wahrheit«, und es packte ihn förmlich ein Fanatismus. Ein rascher
Entschluss, ein Sprung ins Leere!*) Er suchte die Lücke des ver-


*) S. Gerhard Gran über Arne Garborg, »Samtiden«, Maiheft 1897.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 661, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-17_n0661.html)