Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 660

Die skandinavische Literatur und ihre Tendenzen (Herzfeld, Marie)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 660

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660 HERZFELD.

die Bildnerfreude erwacht, die dem rücksichtslosen Wahrheitstrieb bald
einen überwältigenden grandiosen Zug von Fülle gab — wie es den
Arbeiten der genialen Norwegerin Amalie Skram — bald eine medaillen-
hafte Schärfe und einen männlichen, oft fast heroischen Styl, wie es
den Dramen von Edvard Brandes — oder Witz und feines Form-
gefühl, wie es den Sachen von Alexander Kielland, Henrik Pontop-
pidan und vielen Anderen eigen ist. Und dann traten auch diese zu-
rück vor einer Reihe von neuen Dichtern, die neue psychologische und
künstlerische Probleme aufwarfen. Es waren andere Zeiten herauf-
gekommen.

VI.

Die zweite jüngere Literaturgruppe löst sich erst allmälig klar
von der brandesianischen ab. Ihr Kennzeichen ist eine phantheistische
Hingabe an die Natur, eine innige Umfassung des gesammten Lebens,
die Empfindung des unzertrennbaren Zusammenhanges mit dem All.
Sie nennen diese ehrfürchtigen Schauer, dies innere Wissen darum, dass
alles Leben nur die Manifestation einer einzigen Kraft ist, alles Vor-
handene ein Einssein in vielen Formen — sie nennen ihn bescheiden
Mysticismus. Es ist der gleiche Mysticismus, der den heiligen Fran-
ciscus antrieb, die Fische, die Vögel, das Gras, ja das Wasser seine
Brüder zu nennen — alles Kinder einer Mutter, allesammt der
Erde entsprossen, organisirte Elemente des gleichen Alls. Sie suchen
aus dem Atomismus zur Einheit zu kommen, das Zersplitterte als
Ganzes zu fühlen, auch im eigenen Wesen das Centrale zu finden. Aus
diesem Centralen heraus suchen sie ihre Persönlichkeit aufzubauen und
ihre Welt dazu. Sie suchen in der Kunst nicht wie die brandesianische
Schule die Vertreter einer Verstandescultur, das Universelle, nicht das,
was auf der breiten Oberfläche den heutigen Tag erfüllt und mit dem
heutigen Tag vergeht; sie wollen nicht Querschnitte der Zeit her-
stellen, sondern Längsschnitte, die dem Leben bis an die Wurzel nach-
gehen, sociale Probleme zu psychophysischen und zu entwicklungs-
geschichtlichen Problemen vertiefen und das Einzeldasein als Phänomen
des Gesammtseins erfassen. Sie beseelen den Moment, dass er ein
Symbol der Ewigkeit werde, eine Quintessenz alles Seins, der Knoten-
punkt von Vergangenheit und Zukunft, so wie sie auch eine Land-
schaft beseelen und dem Dauernden die flüchtige Stimmung des Mo-
ments ablauschen; denn sie fühlen das Leben ebenso in der Land-
schaft als etwas Persongewordenes, wie sie sich als bewusst gewordene
Landschaft empfinden. Man lese nur ein paar analysirende oder be-
schreibende Seiten von Ola Hansson: Was ist da noch aussen und
was ist innen? Was Mensch, was Welt? Oder eine Skizze von
Per Hallström mit dem ahnungsschweren Inhalt einer Secunde,
diesem Dunkel vorn, diesem Dunkel rückwärts, und das Dunkel voll
von mystischem Leben — alles voll Leben, auch die Leere, auch der Tod,
nur unsere Sinne sind blind und nehmen nichts mehr wahr. Oder einen
Roman von Thomas Krag: wie spürt man immerfort die Allgegen-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 660, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-17_n0660.html)