Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 759
Text
den Granit schlagen, um die Menschen zu rufen, die ich zu befreien
hatte! Und ich lauschte hin, ich befühlte die unerbittliche Härte
dieser natürlichen Pyramide, um irgend ein Erkennungssignal erspähen
zu können!
Alle wild-öden Orte geben euch Hallucinationen und plötzliche
fixe Vorstellungen von Hoheit. Wenn ihr allein auf einem Berge steht,
so hindert euch nichts, euch für einen König zu halten! Mit meinem
Lederstrumpf hätte ich den Wipfel einer Pappel streifen können, und
tief unten gewahrte ich Frau Téard unter ihrem weissen, rothgefütterten
Sonnenschirm schlummernd, Frau Téard in der Grösse eines Herrgotts-
käfers mit rosenrothem Köpfchen! Nun also! Warum liess man die
Zugbrücke nicht herab? Schliesslich erfasste mich ein Schwindel, und
die Augen voll Wuth zusammendrückend, kehrte ich um.
Unterhalb des »Rundweges« betrachtete Téard eine Spur im
Gestein. Man hätte meinen können, es sei das Merkmal eines eisernen
Ringes, eines jener Ringe, welche man in Ufermauern einfügt, um
die Fahrzeuge daran anzuketten. Eine gute Viertelstunde lang blieben
wir eigensinnig da, nur an unseren Nägeln uns über dem Abgrund
haltend und diese schwachen menschlichen Spuren studirend, bis wir
endlich annehmen mussten, dass ein Kieselstein, der aus seiner Sand-
steinhöhle herausgetreten war, wie der Kern aus einer reifen Frucht
heraustritt, wahrscheinlich dieses ringförmige Mal gebildet hatte. Wir
mussten nun hinunter. Wir gingen weg, jeder ganz in sich vertieft
und mit der unglücklichen Miene von Leuten, die man nicht hat
empfangen wollen, weil sie nicht gut genug gekleidet waren. Den
ganzen Abstieg entlang hatten wir schreckliche Unfälle; ich stürzte in
einen von Dornengestrüpp starrenden Graben, und Téard setzte den
Fuss auf eine Natter. Unten harrte Frau Téard, die erwacht war,
unsrer mit Ungeduld, mit verstörten Mienen die Arme in der Luft
schwenkend; ein herrenloser Hund hatte den Proviantkorb geplündert,
der Wein war, allzu heftig von der Wellenbewegung des Wassers hin
und her geschüttelt, ausgeflossen. Es blieb uns nur Brot übrig, aber
ein Brot, das schon benagt und mit Speichel benetzt war Téard
lachte enttäuscht und zornig auf; seine Mutter jammerte, und ich, ich
wagte nichts mehr zu sagen. Die Sonne ging unter, und man kehrte
geschwind zu Tische heim.
Während des Mahles, da das Fenster nach einem wunderbaren
Horizont voll Flammen und Gold geöffnet war, stiess ich einen wahren
Zornesschrei aus, indem ich mit dem Finger nach dem fernen Hügel hin
zeigte. Dort dort ein diabolisches Spiel von purpurnen Lichtern
und violetten Schatten liess die Ruinen des feudalen Schlosses wieder
hervortreten. Ich unterschied deutlicher denn je die Wartthürme, den
Rundweg, die Zinnen; und furchtbarer als je ragte im Blutschein des
sterbenden Tages das hermetische Bergschloss empor, die unbekannte
Heimat, die meine Seele an sich zog!
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 759, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-20_n0759.html)