Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 758

Das hermetische Bergschloss (Rachilde)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 758

Text

758 RACHILDE.

wie war man zur Zinne des Baues gelangt, wie hatte man diese Mauer
überstiegen, die so glatt war, dass sie davon schimmerte?

»Mit Leitern?«

»Warum nicht gar? Das ist ja die Geschichte des Recruten! Der
Bursche hat mit Knoten versehene Seile und Krampen herbeigeschleppt;
er hat Leitern daraus aufgerichtet, bald im Westen, bald im Osten; man
hat ihn von unten aus gesehen, wie er sich einem Besessenen gleich
geberdete, und doch war er nicht betrunkener, als ich es bin — was
nicht hindert, dass die Sache mit einem tollen Absturz geendigt hat —
kopfüber, gradaus in den Brunnen hinein! Nein einen Luftballon
müsste man haben «

Als wir bei dem Grundgestein des »Schlosses« angelangt waren,
mit den Nüstern den herben Duft des grünen Mooses einziehend, das
es sammtweich überzog, da waren wir viel weniger vorgeschritten, als
da wir uns beim Anstieg befunden hatten; wir konnten nichts mehr
von der Gesammtheit erblicken, und die Details verwirrten nur unsere
in den blödsinnigsten Conjecturen befangene Einbildungskraft.

»Umkehren!« rief ich.

Der Eine von uns steuerte nach West, der Andere nach Ost;
wir sollten uns unterhalb der Stelle vereinigen, die ich den Rundweg
nannte. Um weiter zu kommen, klammerte ich mich an die jungen
Bäumchen, an die Grasbüschel — das Erdreich war ausserordentlich
glitschig, Steine bröckelten sich unter meinen Beinen los und kollerten
hinab bis zu dem Brunnen, wo der Wein für unsere Mahlzeit einge-
kühlt war. Man hörte sie von Graben zu Graben springen, an Fels-
blöcke anschlagen und endlich wie todte Vögel in das Laubwerk nieder-
fallen. Die Erde, eigenthümlich bröcklich, liess unter meinen Schritten
nach, rieselte in schweren Strömen zu Thale, voll von braunen, schillernden
Füttern, die den Schuppen eines gigantischen, vorsündfluthlichen Fisches
gleichen mochten. Die fettigen Pflanzen liessen einen klebrigen Saft an
den Händen zurück, und man athmete ganz nahe am Moose einen
Duft von Fäulniss ein. Wenn ich den Kopf in die Höhe hob, so fand
ich die imposanten Linien dieses Baues ohne Thür und Fenster wieder,
und mein Blick, der verzweifelt hinanklomm, konnte sich weder an eine
Unebenheit des Gesteines, noch an irgend ein Blümchen anklammern.
Der Fels, immer der Fels war’s, schimmernd, sickernd, ohne einen
Spalt, ohne ein Loch. Und dort oben, hoch oben im Lichte, da kreisten
die Weihe mit den silbrigen Flügeln, langsam, schwebend, mit den Be-
wegungen ruhiger Schwimmerinnen, die sich der sanften Fluth eines
blauen Oceans anvertrauen. Es gibt Stunden, da die reine Luft uns
trunken, uns die Trivialität der Dinge vergessen macht — einen
Augenblick lang schien es mir fast einfach, einen Ballon zu haben!
Oh! hineintreten in das Schloss, das ich gesehen hatte, das existirte,
weil ich es gesehen hatte, eindringen in das Innere der geheimniss-
vollen Citadelle, wo mich, wie mir durchaus schien, Jemand erwartete!
Ja, ich musste eines Tages hingelangen, musste die kolossale Mauer
mit meinen armen, ohnmächtigen Händen betasten, mit der Stirne an

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 758, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-20_n0758.html)