Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 864

Director Emerich v. Bukovics Wendriner, »Föhn«

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 864

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864 NOTIZEN.

Aufnahme eines Dramas und über
die Zahl der Aufführungen, die es
erlebt, genaue Nachricht senden.
Ward in Paris ein Stück zum
hundertstenmale gegeben, so ac-
ceptirt es Herr v. Bukovics, sonst
lehnt er es natürlich ab. Zahlen
beweisen! Aber aus eigenem An-
trieb, aus eigener Ueberzeugung,
ohne ein Muss, das ihn zwang, hat
dieser schwache, schwankende, un-
sichere Director nie für ein Werk
die Hand gerührt So mögen
tausend Kräfte wohl, die für die
Bühne wirken könnten, durch seine
Schuld sich still verbluten, so mag
der Ruf berechtigt sein: Wie schön
steht dieses Deutsche Volkstheater
trotz des Directors da, wie mächtig
aber, wie gebietend würde es
zum Himmel ragen, war es von
diesem kindlich-naiven, allen Ein-
flüssen zugänglichen, halt- und ge-
schmacklosen Manne befreit.

Rudolf Strauss.

Föhn: Novellen von Ri-
chard Wendriner. Breslau,
Verlag v. L. Frankenstein 1897.

Das ist ein kluges und ein feines
Buch; keines von denen, die
berauschen und begeistern, aber
köstlicher Reize und heimlicher
Schönheiten voll, und der es ge-

schrieben, zählt zu den vornehmen
Künstlern, zu jenen, die stets Hand-
schuhe tragen. Fünf Novellen hat
Wendriner zu einem Bande hier ver-
eint, und jede könnte man mit den
Worten charakterisieren, die Georg
Brandes einmal auf Turgenjew an-
wandte: »Der Gram über die ge-
zeigte Brutalität äussert sich nur als
Ironie, und diese Ironie verschwindet
wieder in der Wehmuth der Total-
stimmung.« Das Leben scheint ihm
brutal und die höheren Menschen
gehen an ihm zugrunde. Aber
Wendriner erzählt das ohne Pathos
und ohne Leidenschaft, und seinen
Schmerz verbirgt eine kühle, fast
spöttische Miene. Vor den Men-
schen, die er lieben möchte und
doch hassen muss, vor ihnen flüch-
tet sich Wendriner gern zur Natur,
die er, wie nur wenige, zu beob-
achten und zu schildern weiss.
Denn er besitzt die bei Schrift-
stellern ziemlich seltene Gabe des
malerischen Sehens, aber auch
ein ungemein plastisches, an Mau-
passant geschultes Darstellungsver-
mögen. Ob das Buch viele Leser
finden wird? Chi lo sa? Doch was
liegt daran, wenn es nur die guten
für sich hat, — das scheint mir
die Hauptsache. E. S.



Herausgeber und verantwortlicher Redacteur: Rudolf Strauss.

Ch. Reisser & M. Werthner, Wien.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 864, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-22_n0864.html)