Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 908
Text
haben glaubte. Das erste von diesen ist: dass ich mir gar vielmals leid
that, wenn meine Erinnerung meine Phantasie dazu bewog, sich vor-
zustellen, was die Liebe aus mir machte. Das zweite ist, dass Amor
mich oft und plötzlich so gewaltig überfiel, dass nichts Anderes in mir
lebendig blieb, denn ein einziger Gedanke, der von meiner Herrin
sprach. Das dritte ist, dass, wenn solch ein Liebeswogen mich be-
stürmte, ich mit völlig entfärbtem Gesichte mich aufmachte, um jenes
Weib zu sehen, in der Meinung, dass ihr Anblick mich vor diesem
Sturme schirmen werde, und vergessend, wie mir ward, wenn ich solcher
Lieblichkeit mich näherte. Das vierte ist, wie dann dieser Anblick
mich nicht nur nicht beschirmte, sondern das geringe Leben, das noch
in mir war, völlig vernichtete; und darum schrieb ich dieses Sonett:
Schon oftmals ist mir in den Sinn gekommen,
Wie dunkel Amor mein Gemüth gemacht,
Und Mitleid fasst mich, so dass ich beklommen
Mich frage: Hat er jedem dies gebracht?
Denn oftmals überfällt er mich mit Macht,
Dass fast der ganze Odem mir benommen —
Ein Geist nur, der von Euch mir redet sacht,
Ist in dem tödtlich wilden Sturm entkommen.
Dann zwing’ ich mich, um neu mich zu beleben,
Und todtenblass und jeder Kraft beraubt,
Komm’ ich zu Euch und hoffe zu gesunden,
Doch so wie meine Blicke Euch gefunden,
Fährt mir ein Zittern jäh durch Herz und Haupt,
Und aus dem Busen will die Seele schweben.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 908, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-24_n0908.html)