Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 909
Die Humanitätsfrage in der Ehe (Jacobsen, R.)
Text
»Es ist die Aufgabe jeder neuen Dichtung,
Grenzpfähle zu rücken.«1)
Henrik Ibsen .
DIE HUMANITÄTSFRAGE IN DER EHE.(Gabriele d’Annunzio: »L’Innocente«.)
Von R. Jacobsen (Venedig).
Als der alte Leo Tolstoj aus dem äussersten Thule zum erstenmale
sein geniales und rücksichtsloses Buch (»Die Kreuzersonate«) über die
Brutalität in den erotischen Beziehungen zwischen Mann und Frau —
und zwar innerhalb des heiligen Rahmens der Ehe selbst — in die
Welt schleuderte, dachte er wohl schwerlich daran, dass er ein Decen-
nium später in dem fernsten Süden einen begeisterten Apostel für seine
Ideen finden würde, einen Apostel, der dieselben bis zu ihren äussersten
Consequenzen zu führen wagte und seinen galanten und für Erotik
passionirten Landsleuten zum Trotz die reine »Menschlichkeit«,
oder sagen wir mit Tolstoj lieber die »Brüderlichkeit« als das er-
lösende Wort für das durch gewaltsame, erotische Fractionen zerstörte
Verhältniss zwischen Mann und Weib aussprechen wollte.
Und doch geschah dieses in literar-psychologischer Hinsicht viel-
leicht einzig dastehende Phänomen: der feurige Süditaliener, das Enfant
terrible der modernen italienischen Literatur, der durch seine eigenen
extravaganten Liebesabenteuer genugsam bekannte junge »Mondain«, der
Sicilianer Gabriele d’Annunzio, führte in seinem Roman »l’Inno-
cente« eine Treubruchstragödie auf, wo die beiden schuldigen Gatten
zur guter Letzt vernichtet und, durch das Joch Eros’ zur Erde gedrückt,
sich in die Arme fallen, sich gegenseitig verstehen, beweinen, und was
noch mehr ist — verzeihen!
Das merkwürdige Buch2) flog wie ein Lauffeuer durch ganz
Italien, gewaltsame Polemiken, und von Seite der clericalen Presse
himmelschreiende Verwünschungen hervorrufend — der in ihm ausge-
sprochene Humanismus wirkte nicht beruhigend und abkühlend, wie
beabsichtigt war, sondern aufstachelnd und reizend wie Oel ins Feuer.
Man muss lange im Süden gelebt haben, um zu verstehen, was
es zu sagen hatte, dass ein italienischer Verfasser einem italieni-
schen Publicum ein solches Buch zu bieten wagte — hier wo die
1) Diesen noch unveröffentlichten Spruch schrieb Henrik Ibsen der Ver-
fasserin dieses Artikels in ein Album zum fünfundzwanzigsten Jubiläumsfest
Sacher-Masoch’s, worin diese Beiträge von nordischen Verfassern sammelte!
2) L’Innocente wurde in Paris, ein Jahr nach seinem Erscheinen, als
Feuilleton zu »Le Temps« unter dem Namen »L’Intrus« veröffentlicht.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 909, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-24_n0909.html)