Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 915
Georg Hirschfeld und Agnes Jordan (Rilke, Rainer Maria)
Text
Von Rainer Maria Rilke.
Das war vor einem Jahre in München bei »Heck«. In dem
Arcadenrestaurant, in dem die vielen Maler zu Mittag essen. Es gibt
ein paar Stammtische dort, an denen sie sich »unter sich« fühlen. Sie
sprechen viel und laut und essen gewohnheitsmässig und gedankenlos.
Und dann gehen sie ebenso eilig wieder fort ins Café. So kommt es:
»Bei Heck« ist ein ewiges Vorübergehen. Dort fand ich Hirschfeld wieder.
Wir sassen beisammen, und ich vergass gern alle Unrast um uns und
ruhte mich aus in seinen stillen, klaren Augen. Täglich empfand ich,
was ich schon beim ersten Kennenlernen fühlte. Das ist Einer, der sich
reifen lässt. Er drängt nichts in sich, er überstürzt nichts, er hat immer
ein Heute, das ihn ganz ausfüllt, und ein Morgen, das er erwarten kann.
Seine Seele hat ein tiefes Athemholen. Sie grübelt nicht, wünscht nichts
Weites, sie hat einfach Sommer, sie reift. Manchmal, ganz vorüber-
gehend, kam etwas über ihn, das ich beim ersten Begegnen nicht ge-
funden hatte. Etwas Hastiges, Fremdes. Es drang nicht bis in seine
Worte, nicht einmal die Stille seiner Augen störte es; es war wie eine
Erinnerung, die irgendwo vorüberging; nur der äusserste Saum ihres
Schattens schleppte über seine Stirne, und nur eine Secunde lang.
Dann machte er eine kleine Handbewegung, eine fast unmerkliche Abwehr
und sagte irgend was Klares. Erst wenn er sich erhob und mir die
Hand herüberreichte, kam’s wieder. Ich wusste, er ging arbeiten, er
selbst sagte es nie, aber man wusste unter uns: Hirschfeld arbeitet.
Damals schrieb er seine »Agnes Jordan«.
Das war gestern im »Deutschen Theater« in Berlin. Die Sorma war
entzückend gewesen als Braut. Man klatschte, und schon nach dem
ersten Aufzug kam Hirschfeld vor den grünen Vorhang. Und? Ich be-
griff auf einmal den Schatten von damals. Er war wieder auf seiner
Stirne, nur eine Secunde lang, und er war wohl auch unzeitgemäss
im Augenblick, da er sich für den ungeduldigen Beifall bedanken kam.
Wir haben gestern mehr als dreissig Jahre im Theater gesessen.
Anno 1863 heiratet nämlich Agnes den Handlungsreisenden Jordan.
Ein schönes Familienfest mit Krinolinen und Kränzchen und der Sorma
als Braut. Ausserdem ziemlich bekannte Leute: die energische, etwas
kleinliche Mutter, der Vater, ungewohnt in der lichten Festfreude, und
die gewöhnlichen Gäste, die lieber rauchen und Witze machen, statt zu
tanzen. Das geht Alles glatt und glänzend, bis der Commis Jordan ein
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 915, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-24_n0915.html)