Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 916
Georg Hirschfeld und Agnes Jordan (Rilke, Rainer Maria)
Text
beleidigtes Gesicht macht. Aus dem beleidigten Gesicht wird eine ganze
Eifersuchtsscene. Die Ursache davon: Onkel Adolf Krebs. Onkel Adolf
lehrt Agnes nämlich Schiller lieben und Meyerbeer verachten. Das ist
aber nur so nebenbei. Eigentlich liebt er sie, so wie er die Musik liebt,
auf die er auch hat verzichten müssen. Nun kämpft er einen argen
Kampf; er besiegt seine Sehnsucht und gibt Jordan sogar Geld, um
die Heirat zu ermöglichen. Soweit ist Alles verheissungsvoll. Am Ende
des ersten Actes weiss man: zwischen dem Onkel Adolf und der jungen
Frau sind trotz des entsagenden Geständnisses des alternden, hässlichen
Mannes feine und leise Fäden gespannt, die bis zum Jahre 1896 (da
spielt, laut Theaterzettel nämlich, der letzte, fünfte Act) reichen können.
Und man interessirt sich für Onkel Adolf. Der Zwischenact ist lang
genug, um zu combiniren. Vielleicht tritt der alternde Onkel doch nicht
ganz zurück vor dem Handlungsreisenden, der so schön, dumm und ge-
scheitelt ist?
Aber dann kommt der zweite Act und mit ihm das Jahr 1872.
Jordans sind in Heringsdorf und haben einen Buben. »Er« unterhält
sich ganz ausgezeichnet, geht nach der neuesten 1870er Mode und
spielt mit den Kindern der reichen Frau Wiener (Else Lehmann) Seil-
tänzer, indem er seine Finger wandern lässt auf den Armen draller
Kindergärtnerinnen. »Sie« ist ganz einsam geworden, ganz ängstlich und
hat ein graues Kleid an. Da kommt plötzlich Onkel Adolf an. Nur für
zwei Stunden fährt er nach Heringsdorf, um Agnes zum Geburtstag
nachträglich zu gratuliren. Eigentlich ist es damit aber so wie einst
mit Schiller und Meyerbeer; im Grunde will er etwas ganz Anderes.
Nämlich: von Jordan das Geld wieder haben, dessen Rückzahlung
der über alle Termine hinaus verzögert hat. Jetzt muss Onkel Adolf
das Geld haben; denn er und Agnes’ Vater sind »pleite« und sogar die
Depositen sind angegriffen. Jordan thut sehr gross und verachtungsvoll,
will »den Bettel« zahlen und verbietet dem Onkel Adolf und »der
ganzen Bande« sein Haus. Der hat nur noch Zeit, ein zages Geständ-
niss seines Lieblings Agnes anzunehmen und ihr zum Abschied einen Ring
zu schenken. Er findet schlichte und liebe Worte dabei. Unter dem
Einfluss dieses Abschiednehmens und ermuthigt durch die Lehren der
Frau Wiener tritt Agnes ihrem Mann nun energisch entgegen und wirft
ihm Selbstsucht und Herzlosigkeit vor. Das rührt ihn viel weniger als
der Umstand, dass sein Freund Wiener kein Geld vorstrecken will. Er
verbietet seiner Frau in prahlerischen Worten jeden Umgang mit ihrer
Familie, fühlt sich sehr gross und erhaben, und von da an ist Frau
Agnes officiell unglücklich. Zum nächstenmale finden wir sie im Jahre 1882.
Alles ist, wie es war. Zu dem nunmehr 14jährigen älteren Jungen
Hans ist noch ein Knabe hinzugekommen. Die beiden Kinder und das
Publicum erleben eine Reihe abstossender Familienscenen mit, die damit
enden, dass der Knabe Hans seine Mutter vor die Brust stösst und sie,
gebrochen, das Haus verlässt. Im selben Jahre aber kommt sie, als der
Vater ihr den kleinen Ludwig mit der Wirthschafterin schickt, zurück,
um den Sohn Hans, der sich an jedem Circusabend erkältet, zu pflegen.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 916, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-24_n0916.html)