Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 917
Georg Hirschfeld und Agnes Jordan (Rilke, Rainer Maria)
Text
Das gelingt ihr offenbar; denn im Jahre 1896 ist der Hans nicht nur
stark und gesund, sondern sogar mit der Nichte der Frau Wiener ver-
lobt, und Ludwig, der dem inzwischen längst seligen Onkel Adolf seltsam
nachgerathen, kann den Hochzeitsmarsch componiren. Dabei bleibt ihm
immer noch Zeit, vor seiner gerührten Mutter eine Reihe endloser,
blasser Phrasen zu bauen, mit der er sonst als »von dem Neuen er-
füllt« nicht durchwegs übereinstimmt. Nur darin sind sie Alle einig:
sich über den gealterten Vater Jordan lustig zu machen. Der ist indessen
ganz zur Possenfigur geworden, und der Ton, den sein Auftreten an-
gibt, bleibt herrschend im ganzen Act und löst sich endlich in den
leeren Albernheiten Ludwigs, der unter Anderm Sätze ausspricht wie:
»so lange es eine Kunst gibt, darf man leben,« und durch solche Tief-
sinnigkeiten seine Mutter Agnes sehr erschüttert. Endlich fällt ihm beim
besten Willen nichts mehr ein. Und der Agnes Jordan auch nicht. Da
tritt Ludwig ans Clavier und fleht mit ein paar schmelzenden Takten
den Vorhang herunter.
Uebrigens: es war, wie wenn der Vorhang siedeheiss in kaltes
Wasser sänke — so zischte es.
Mir tauchen eine Menge Fragen auf angesichts dieses Theater-
abends. Und gleich bei der ersten bleibe ich stecken: Warum erzählt
uns Hirschfeld die Geschichte der Frau Agnes? Es ist die Geschichte
der unbedeutenden Frau mit dem guten Herzen, deren Martyrthum wir
nicht anerkennen, weil sie es durchleidet, statt es zu durchkämpfen.
Deshalb führt es am Ende auch zu keinem Sieg, wenn Hirschfeld es
anders nicht als Sieg betrachtet wissen will, dass Frau Jordan am
Ziele zu der Höhe der Anschauung gelangt, den Mann, der vor unseren
Augen durch 30 Jahre alle zarteren Wünsche in ihr brutal niedertritt,
einfach lächerlich zu finden. Auch das macht für mein Gefühl keinen
Triumph aus, dass sich die Kinder ihr gerade in diesem Punkte einen,
und dass die Verspottung des Vaters so sehr den Grundton des Hauses
zu bilden scheint, dass auch die noch fremde Frieda, die Braut des
Sohnes Hans, ihre Bemerkungen auf ihn einstimmt. Wie derb ist auch
die Absicht, eine Parallele zum Anfang zu ziehen und in Hans und
Frieda das Brautpaar von heute dem von anno 1865 gegenüberzu-
stellen. Und mitten in diesem possenhaften Gerekel besinnt sich der
Dichter auf sich und seine Würde, wirft die übermüthigen jungen Leute
hinaus und übergiesst die Zurückgebliebenen — Mutter und Sohn — mit
erzwungener Stimmung. Dazu Abendroth und Musik Das ist nicht
einmal gut altmodisch; das ist Rührung ärgster Sorte. Aber gut modern
kann er doch sein? Nein — etwas Merkwürdiges ist mir aufgefallen:
wie nahe bei Hirschfeld modern und banal sind. Er kann das eine
nur sein, wenn er das Andere sein darf. Das kommt so: die Typen,
die er aus genauer Erfahrung kennt — und er hat solche in »Zu
Hause« und in »Mütter« gefunden — sind Vertreter der kleineren
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 917, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-24_n0917.html)