Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 918
Georg Hirschfeld und Agnes Jordan (Rilke, Rainer Maria)
Text
Berliner Kaufmannswelt, engherzige, nicht ganz ehrliche Juden, durch
und durch Menschen aus dem Alltag, dort, wo er am grauesten ist.
Dass diese Menschen banal sind, verleiht ihnen nicht nur den Stempel
einer oft verblüffenden Echtheit, sondern hilft auch das Milieu bauen,
jenes nunmehr genügend ausgebeutete Milieu mit den Nutzmöbeln und
Nutzmenschen, in das dann immer einer kommt, dem das Athemholen
drin schwer fallt. Aber es kommt doch wenigstens Einer! Und diesem
Einen gibt dann Hirschfeld aus seinem Besten, aus seinem Eigensten:
und das ist nicht seine Erfahrung. Das ist etwas Tiefes, das ich nicht
mit Namen nennen möchte, um es nicht einzuschränken, und es ist so
sehr sein Eigenthum, dass ich nur mit ihm selbst darüber sprechen
möchte in einer leisen einsamen Dämmerstunde. Dieses — und nicht
das Kennen des Milieus — macht den Werth von »Zu Hause« und
»Mütter« aus — in »Agnes Jordan« ist es ganz fortgedichtet. Das ganze
Stück in seiner augenblicklichen Fassung — ich vermuthe, dass es
mehrere Zustände überdauern musste — ist wie jene alten Wandgemälde,
die man in kunstunverständigen Tagen mit Tünche blind gemacht, dann
roh übermalt hat, und nur hie und da sind, wie durch spielende Kinder-
hand, Stellen blossgelegt von dem eigentlichen, feinen Meisterwerk. Ganz
wenige nur, und sie wirken, wie sie so schüchtern durchschimmern, nur
als Störungen des rohen Barbarengeschmackes der äussersten Kruste.
Diese Stellen sind bezeichnenderweise nicht in der Gestalt der Frau
Jordan (wenigstens sind sie da nicht blossgelegt), sondern in dem etwas
feminen Mann Onkel Adolf, der sich als Ludwig über sein Grab hinaus
fortsetzt, und zwar im zweiten Act bei der Ringscene und da, wie
Klein-Ludwig seine Mutter abholt. Der erwachsene Ludwig bekommt
nichts mehr davon, den versorgt Hirschfeld überreichlich aus den
Phrasenvorräthen seines Universalmilieus.
Dieser beste Besitz Hirschfeld’s ist etwas Intimes und kann sich
nur im intimen Leben seiner Gestalten spiegeln. Von dem können
wir aber in einem Stück, bei dem die immer grauer werdenden Haare
in Begleitung der von 1865 bis 1896 wechselnden Moden das Wichtigste
sind, nichts erfahren. Es bleibt kein Raum dafür, denn im ersten Act
müssen wir die Leute, und zwar Leute von anno 1865 kennen lernen,
was nicht ganz mühelos ist, und in den folgenden Aufzügen müssen
wir die Leute von 1865 in den Kleidern von 1873, 1882 und 1896
suchen und uns immer melden lassen, wer indessen gestorben ist;
dabei kommt der beunruhigende Gedanke hinzu, dass, da die Seligen
durch neuen, ausdauernden Nachwuchs stetig ersetzt werden, unzählige
Generationen vor unseren Augen sich unglücklich verheiraten werden.
Sollen die Personen nun neben allen genannten Verpflichtungen noch
Einiges thun, nämlich schelten, schreien und über die Kunst reden, so
kann doch unmöglich verlangt werden, sie möchten uns in dieser
knappen Zeit auch noch etwas von dem Inneren zeigen, das Herr
Hirschfeld ihnen gegeben hat.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 918, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-24_n0918.html)