Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 919

Georg Hirschfeld und Agnes Jordan (Rilke, Rainer Maria)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 919

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GEORG HIRSCHFELD UND AGNES JORDAN. 919

Also! »Agnes Jordan« oder »Alle zehn Jahre eine Familienscene«,
Roman nach dem Birch-Pfeifer’schen in fünf Bänden. Man hörte ja
ordentlich das Deckelzuklappen nach jedem Act. Und das ist das
Allerschlimmste, dass Herr Hirschfeld diesmal ein Axiom vergessen
hat: dass er ein Drama schreiben wollte! Seltsam, das thut er zu
einer Zeit, da wir doch ein paar dramatische Erfahrungen haben, die
nicht ganz werthlos sind. Da wir z. B. wissen, dass die Zeit auf der
Bühne nur mit wenig langsameren Zeigern vorschreiten darf als die
auf der nächsten Thurmuhr, und dass sie auch in den Zwischenacten
nicht einschlafen soll, um beim nächsten Vorhangheben dieselben
Stunden, nur in anderen Jahren anzuzeigen, dass wir das Hauptgewicht
unserer Betrachtung nicht mehr auf die Zufälle richten, die die
Menschen von aussen anrühren, und es für werthvoller halten, den
stillen und heimlichen Schicksalen ihres leisen Erlebens nachzugehen,
und dass dieses Erleben zeitlos ist wie der Traum, nicht gebunden
an Jahre und — Zwischenacte. Herr Hirschfeld hat alles das negirt,
und das ist so, als wollte Einer anfangen, Oellampen zu erfinden zur
Zeit, da die neben ihm schon fast aus der Elektricität herausreifen.
Hirschfeld hat das Leben der Frau Jordan durch dreissig Jahre verfolgt,
d. h. er hat uns fünf unzusammenhängende, farbenrohe Bilder aus dem
nichtssagenden Leben der Frau Agnes gegeben, von denen das erste
Costüme von 1865, das letzte die von 1896 aufweist. Ein Stück cultur-
geschichtlicher Anschauungsunterricht. — Wie unübersehbar, wie
steppentraurig hätte das Los des gequälten Weibes gewirkt, wenn wir
ihre Seele in einem Act hätten altern sehen, gegen dieses in
regelmässigen Zwischenräumen fortschreitende Altwerden ihrer Haare
und Hände! Wie rührend wäre diese Gestalt gewesen mit ihrem Leid,
das klein genug ist, mit ihrer Sehnsucht, die eben noch einen engen
Rahmen erfüllt hätte, und wie blass und zerfliessend erscheinen Farben
und Umrisse im weiten Raume dieser grundfalschen Composition. Alle
Schrecken eines vielbändigen Moralromans von der Bühne her
einzujagen — das ist das Kunstproblem, das Hirschfeld glänzend ge-
löst hat.

Ich weiss noch nicht, was die hiesige Presse meint; ich weiss
nur, Sudermann hat unermüdlich Beifall geklatscht, und er hat so
Recht. Ich habe Sudermann verehrt an diesem Abend. Er jubelte der
Unfähigkeit dieses Hauptmannianers, den er glaubte, einmal über Nacht
fürchten zu müssen, mit breiten Händen zu und dachte sich: Da
mach’ ich’s doch noch anders. Gewiss. Sudermann kennt das Theater
zu gut, er befriedigt seine guten und seine lasterhaften Bedürfnisse wie die
Ansprüche einer feinen Maitresse. Und der, der nun seit drei Jahren
als »der Jüngste der Jungen« verwöhnt wird, kam mit Romanmätzchen
und platten »Schlagern« auf die Bretter und lächelte dabei naiv wie
ein Kind. Und er ist über das Alter hinaus, wo man solche Naivetät
reizend findet. Uebrigens, wo in diesen Bildern wirklich ein Stück

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 919, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-24_n0919.html)