Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 914
Die Humanitätsfrage in der Ehe (Jacobsen, R.)
Text
des sittlichen und geistigen Lebens, Sie zieht Mann oder Frau, welche
das Familienleben und alle guten Gefühle zusammenknüpften, unwider-
stehlich mit sich hin, der Eine oder die Andere wird ihr Opfer.
Und dann stürzen sich die Beleidigten über einander wie wilde
Thiere — das ganze Gebäude von Glück, woran sie Jahre lang zu-
sammengearbeitet haben, wird mit einem Schlag zerschmettert, alle
Erinnerungen vom Edlen und Theuren zwischen ihnen versinken wie
Schatten in ein Meer von bösen Instincten: Hass, Hohn, Rache und
Blut. Und gleichzeitig, indem die Leidenschaft und Erotik verlischt,
schwindet die Freundschaft, die Achtung, das Verständniss, jeder
Funken der einfachsten Barmherzigkeit. Ist dieses menschlich? Und
wenn dann das Gesetz, wie es leider oft in den letzten Jahren der
Fall gewesen ist, die Gewaltthaten einer solchen Leidenschaft, wie
blutige Beleidigungen, Misshandlungen, ja selbst den Mord sozusagen
sanctionirt, indem es den Missethäter freispricht, ist es dann in der
That nicht ein monströs ausgeprägter Naturzustand, zu dem wir zu-
rückkehren?
Mächtig hat die Natur die Geschlechter aneinander gezogen,
wild und feindlich stellt sie dieselben in gewissen Augenblicken des
Lebens einander gegenüber, das strenge Wort der Schrift und des
Gesetzes wirft unbarmherzig den Stein auf den Schuldigen. Aber ein
Buch wie d’Annunzio’s »L’Innocente« klingt wie eine Sprache aus
einer ganz anderen, mehr civilisirten Welt, und es steht da, so kommt
es mir vor, wie ein bedeutendes und interessantes Zeichen der Zeit.
Der Gesetzgeber auf Sinai, der die zehn Gebote schuf, sowie die
moderne Kirche und der moderne Gerichtssaal waren unerbittlich
gegen das eheliche Verbrechen — aus Werken wie Tolstoj’s »Kreuzer-
sonate« und d’Annunzio’s »L’Innocente« klingen Stimmen zu den Ehe-
leuten herüber, die vor Allem rufen: »Seid offen gegen einander! Ver-
steht einander! Und seid vor Allem menschlich gegen einander!«
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 914, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-24_n0914.html)