Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 913
Die Humanitätsfrage in der Ehe (Jacobsen, R.)
Text
wirklich sublim angelegten Scene weinen die Gatten die gegenseitige
Schuld aus, stumm, als zwei willenlose Opfer einer fatalen Macht,
ohne Rettung oder Erbarmen.
Hier stehen wir an dem »Grenzpfahl«, von hieraus öffnet sich
plötzlich ein ganz neuer und tiefer Blick über das Verhältniss zwischen
Mann und Frau. Es ist nicht die postulirte Menschlichkeitstheorie
Tolstoj’s in der Liebe, wo man sie nicht nöthig hat, sondern die
naturnothwendige, die sich vielleicht tief im edelsten Boden
jeder Menschenseele birgt, selbst nachdem die leidenschaftlichsten
erotischen Gefühle verwundet sind.
Denn es muss doch einmal so kommen, der Geist muss doch
endlich ein ernstes und nüchternes Wort in diesem grässlichen Kampf
zwischen den beiden Geschlechtern, welcher durch den erotischen Treu-
bruch entsteht, mitsprechen.
Die Natur scheint an dieser Treulosigkeit ihre Freude zu haben,
die Gesellschaft, die Kirche, all unsre civilisirten Culturformen ver-
dammen sie, der Mann als Mann, das Weib als Weib werden in ihr
verzehrt und richten einander zugrunde, der Mensch aber als Mensch
— und sind die beiden Geschlechter nicht auch Menschen einander
gegenüber — was meint er dazu? Ist wirklich die Treue der eroti-
schen Gefühle dem Geiste viel heiliger als die Treue anderer Ge-
fühle?
Wenn das Kind als Jüngling die Eltern verlässt, um neues Glück,
neue Liebe und Freunde zu suchen, wenn der Freund den Freund
vergisst, weil eine Idee oder eine neue Freundschaft seine Seele ge-
fangen hat, ist dann dieses nicht auch Treulosigkeit? Wird ihr aber
nicht vergeben? Warum soll denn die Haltbarkeit der erotischen Ge-
fühle ausserhalb aller anderen Gefühlssphären gestellt werden? Wäre
es nicht an der Zeit, dass die beiden Geschlechter — Männer und
Frauen — wenigstens die civilisirten unter ihnen, sich klar machten,
dass sie im Dienste Eros’ nur als Räder in der grossen, mystischen
Werkstatt der Natur arbeiten, dass sie hier mehr als in irgend einem
anderen Verhältnisse als das Unfreie, das durch Gesetz gebundene,
gleich der in der Erde Schoss festgewurzelten Pflanze, fröhnen?
Sehen wir also die Sache, wenigstens vom theoretischen Stand-
punkt einmal klar und nüchtern an:
Wir werden zu einander durch einen unwiderstehlichen Trieb
hingezogen, der nichts mit dem Moralischen, weder mit dem Guten,
noch dem Bösen zu thun hat; in einem Gefühl von Glück werden wir
vereinigt, die Gesellschaft fordert, dass die Ehe diesen Bund sanctionire.
Unser Leben, unser ganzes Wesen, all unsre Interessen werden zu-
sammengeschlungen, wir bilden eine Familie, und ein Heer von mo-
ralischen Anforderungen erhebt sich zwischen uns. Was kümmert aber
dieses die erotische Natur? Sie führt ihr inneres verborgenes Leben
und bricht sich oft verborgene, neue Wege.
Und dann kommt vielleicht der Tag, da diese Naturmacht
mächtiger wird als all die starken Bande der Moral und der Bildung,
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 913, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-24_n0913.html)