Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 912

Die Humanitätsfrage in der Ehe (Jacobsen, R.)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 912

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912 JACOBSEN.

es ihn, seine Frau wieder zur Geliebten zu haben, als er seiner
Maitressen überdrüssig geworden.

Inzwischen ist aber etwas Neues in das Leben und Wesen der
Frau gekommen — was es ist, weiss er nicht, es ist aber der Schatten
von etwas Fremden (die schwachen, unbestimmten Spuren eines
Dritten), der sich zwischen sie geschlichen hat, leise Ahnungen, dass
die Freude in irgend einer Weise das Martyrium der Gattin ge-
streift hat.

Und ganz stupid und stumm staunt der Gatte: Wäre es möglich,
dass jetzt seine fatale Stunde geschlagen hätte?

Von diesem Augenblick an ist die tragische Bombe zwischen
die Gatten geworfen, beide stöhnen wieder unter dem Joche Eros in
Sehnsucht für einander, beide fühlen sich durch Schuld schwer belastet.
Denn es ist wirklich wahr: der Dritte ist da gewesen, die »Schwester«
hat plötzlich in einem schwachen und verzweifelten Augenblick eine
momentane Befriedigung für ihr unterdrücktes Gefühlsleben gefunden,
der »Engel« ist nicht mehr rein.

»Ist diese weisse Hand noch rein?« frägt er sich grübelnd, wenn
er die Hand der Gattin berührt, und er leidet fast ebensoviel durch
den schwachen Schatten von Zweifel, wie sie die langen Jahre hin-
durch unter seiner offenbaren Treulosigkeit gelitten hat.

Er verlebt jetzt eine bittere Zeit, ringend mit dem Problem des
Zweifels und mit dem leidenschaftlichen Trachten nach ihrem Besitze
— für sie fängt ein neues Martyrium an, eine grässliche Zeit der
Selbstanklage, in der sie nicht philosophisch, wie er es gethan hat,
über ihre Rechte auf Ehebruch grübelt, sondern schweigend und re-
signirt unter dem Bewusstsein ihrer Schuld zur Erde gedrückt wird.

Das passionirte Glück, das die beiden Gatten endlich wieder
gegenseitig in ihren Armen finden, ist von dem tiefsten Schmerz, der
das Menschenleben bewegen kann, durchwoben. Diese beiden Wesen,
welche die reinste Güte für einander hegen, welche das Gesetz zu-
sammengefügt hat, und die sich in so vielen erhabenen Augenblicken
des Lebens Treue zugeschworen, haben wider das Tiefste in ihrer
Natur gesündigt, von Trieben und brutalen Leidenschaften beherrscht,
die stärker als sie selbst waren. Wie sehnen sie sich, schon längst, ehe
das Eingestehen ihres Verbrechens über ihre Lippen gekommen ist,
ihre Schuld gegenseitig in ihren Armen auszuweinen!

Als endlich die grässliche Wahrheit ihm klar ist, dass sie die
Frucht des Verhältnisses mit einem andern Mann in ihrem Schosse
trägt, da stehen seine Gedanken still. Er liebt sie leidenschaftlich
und wird von ihr leidenschaftlich wiedergeliebt — inzwischen keimt
der fremde Lebensspross wie ein Fluch unter ihrem Herzen. In der
Heimat, in der ganzen Familie sieht man dem kommenden Ereigniss
mit Freude und Spannung entgegen, nur zwischen den Eheleuten existirt
das schreckliche Geheimniss. Und doch, als endlich das Eingeständniss
ihrer Schuld über ihre Lippen kommt, verzeiht er ihr, ja, was weit
mehr ist, er leidet rein menschlich mit ihr, er versteht sie. In einer

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 912, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-24_n0912.html)