Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 911

Die Humanitätsfrage in der Ehe (Jacobsen, R.)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 911

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DIE HUMANITÄTSFRAGE IN DER EHE. 911

Missverständnisse hervorbringt, um zuletzt in Misshandlungen und Ver-
brechen zu endigen. Mag sein, dass dieses, idealer gesehen, wahr ist,
mit der Wirklichkeit hat es nicht viel zu schaffen.

Denn nehmen wir neun von zehn unglücklichen Ehen, so ist die
Ursache derselben nicht das ausgeprägt geschlechtliche Verhältniss
zwischen den Eheleuten, sondern eben die erotischen Beziehungen
ausserhalb der Ehe, die Treulosigkeit. Der alte Verfasser, der
selbst 16 Kinder in einer glücklichen Ehe gezeugt hat, trägt irgend
eine schöne Utopie in seinem Kopf herum: man solle in seiner Frau
auch die Schwester erblicken, eine Utopie, die keine Wurzel in der
Wirklichkeit hat.

Der italienische Verfasser aber sieht die Schwesterfrage ganz
anders realistisch und typisch. Er frägt: »Kann die Schwesterlichkeit
und Brüderlichkeit zwischen den Gatten existiren, nachdem die
erotischen Gefühle auf andre übertragen sind? Kann das Mensch-
lichkeitsgefühl in der Ehe so gross sein, dass die beiden Gatten, ge-
meinsam unter dem Fluch einer neuen Liebe leidend, sich verstehen
und verzeihen, während das erotische Gefühl zwischen ihnen oder bei
der einen der Parteien erloschen ist?

Man wird sehen, hier ist ein schwereres Los in der grossen
Tragödie der Ehe angenommen als bei Tolstoj — obwohl der Gedanke
an und für sich utopisch genug klingt.

Die Entwicklung dieser Idee ist mit einer fast beispiellosen
Kühnheit durchgeführt, das Werk klingt wie ein einziger bitterer
Seufzer unter der Herrschaft all des Thierischen, Brutalen in der
Menschennatur, wogegen der Geist ohnmächtig ringt.

Das Buch ist eine Selbstbiographie, in seiner Anlage stark an
Bourget’s »Le Disciple« erinnernd. Mit unvergleichlicher Ironie zeichnet hier
der Gatte im Anfang selbst ein Bild der Ehe, sowie es durch Jahr-
hunderte sanctionirt gewesen ist: der Mann treulos, nachdem er einige
Jahre die Reize seiner jungen und schönen Gattin genossen und ihrer
überdrüssig geworden ist, die Frau leidend, duldend, sowie sie es in
tausend und wieder tausend ähnlichen Fällen immer war. Sie
hat ihre erotischen Gefühle frisch behalten, aber sie leidet schweigsam,
und wenn der Gatte von seinen passionirten Liebesverhältnissen in sein
Heim zurückkehrt, findet er das zarte Wesen discret, voller Anmuth,
leicht traurig ihn erwartend und durch ihre Anmuth seine vier Wände
traulich schmückend. — Der Mann ist hier völlig Mann, d. h. das
Brutale, Passionirte, Wollende, die Frau wohl ein bischen zu sehr
Engel, die starken Farben werden aber durch die ausserordentliche
Ironie gemildert, mit der der Verfasser die Selbstbekenntnisse des
Helden zeichnet.

Das eigentliche Problem des Buches fängt an, wo die erotischen
Triebe des Mannes seiner Frau gegenüber wieder wach werden.
Unter den unerbittlichen Gesetzen der Reaction leidend, denen Eros
mehr als irgend etwas Andres in der Welt unterworfen ist, gelüstet

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 911, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-24_n0911.html)