Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 910
Die Humanitätsfrage in der Ehe (Jacobsen, R.)
Text
»Gelosia« und ihre Consequenzen der primus Motor in all den täg-
lichen Liebesdramen ist, um den Sturm von Angriffen zu verstehen, die
über den jungen Schriftsteller herfielen. Es war ein Aufschrei des ge-
sammten beleidigten Volkes gewesen gegen den Einzelnen, den Ketzer.
Hier auf diese Angriffe näher einzugehen, würde zu weit führen; die
hier geplante Analyse hat sich nur mit dem Grundgedanken des Buches
zu beschäftigen, und zwar mehr im psychologischen als im literarischen
Sinne.
Interessant ist es denn vor Allem erst zu beobachten, wie grund-
verschieden der Schriftsteller des Nordens — Tolstoj — und der
Schriftsteller des Südens auf dieselbe Sache losgehen. Das Buch Tol-
stoj’s ist mit einer Art von Hass gegen die sinnliche Liebe geschrieben
— kalt und unerbitterlich in der Beurtheilung derselben — das Buch
d’Annunzio’s dagegen ist von all der Glut des Südländers, von all dem
Glauben an, von all der Begeisterung für die Liebe, aber auch von dem
tiefsten Schmerz über ihre Brutalität, ihre Treulosigkeit durchdrungen.
Dort ist der Verfasser der Richter, der Censor, hier ist er der
Mitschuldige, der Leidende, welcher sich selbst so klar betrachtet, sich
selbst beurtheilt und — verurtheilt.
Soviel ich mich entsinne, war es der Schriftsteller Sacher-Masoch,
der seinerzeit eine feine und geistreiche Definition von den Bedin-
gungen der glücklichen Ehe aufstellte. Er warf den Grundsatz
auf: Der grösste physische Gegensatz zwischen Mann und Frau, ver-
einigt mit der grössten geistigen Harmonie, sei die sicherste Basis
für dieselbe. Mit anderen Worten: der Mann vollkommen Mann,
die Frau vollkommen Frau, zwei Wesen, einander scharf ent-
gegengesetzt, aber geistig so eng wie möglich gleichgesinnt, zusammen-
klingend wie zwei gleichgestimmte Saiten.
Die Definition ist scharf und tief empfunden, von einem Mann
geschrieben, der als Erotiker der Liebe viel gelebt, sie gefühlt und
durchgedacht hat, aber trotzdem hält sie nicht vollkommen Stich. Die
erotische Liebe ist leider von Natur so treulos, dass selbst das voll-
ständige Vorhandensein dieser seltenen Bedingungen nicht einmal die
völlig glückliche Ehe garantiren würde. Könnten wir uns z. B. einen
Mars und eine Venus denken, sich liebend, in Ehe verbunden, gleich-
zeitig von irgend einer gemeinsamen grossen Idee beseelt, so würde die
Treulosigkeit in diesem Falle doch nicht unmöglich sein, wo nicht in
Thaten, so doch in Gedanken vielleicht. Denn die erotischen Gefühle
sind eben mit allen möglichen Bestimmungen incommensurabel (die
Alten sagten »blind«), und die Zeit, worauf die Haltbarkeit der Ehe
basirt ist, ist vor Allem ihr Feind.
Eben aus diesem Grunde ist Tolstoj’s merkwürdiges Buch über
die Ehe nicht typisch, weil es dieses fatale Capitel aus der grossen
menschlichen Ehetragödie gar nicht hervorhebt.
Tolstoj beharrt bei dem: dass das brutal-erotische Eigenthums-
recht des Mannes über das Weib in der Ehe das Menschlichkeitsver-
hältniss zwischen den Gatten untergräbt, Hass, Eifersucht, verdummende
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 910, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-24_n0910.html)