Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 907
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halb ihrer Werkstätten. Aber dieser Zweifel ist unmöglich für den zu
lösen, der nicht in gleichem Grade ein Getreuer der Liebe ist, und
denen, die solche sind, ist das, was den Zweifel jener Worte lösen
könnte, ohnedies offenbar; und darum wäre es nicht gut für mich,
solchen Zweifel aufzuklären, da ja mein Reden doch vergeblich oder
aber von Ueberfluss wäre.
Nach dieser neuen Transfiguration kam mir ein heftiger Gedanke,
der mich nur wenig verliess, mich vielmehr beständig wieder ergriff
und mir Folgendes vorhielt: »Da du einen so verlachenswerthen An-
blick bietest, wenn du in der Nähe jenes Weibes bist, warum suchst
du dennoch sie zu sehen? Sieh’, wenn sie dich darum fragen würde,
was hättest du ihr zu erwidern? Gesetzt, dass all deines Geistes Kräfte
frei blieben, wenn du ihr antwortest.« Und hierauf antwortete ein
anderer bescheidener Gedanke und sprach: »Wenn ich die Kräfte
meines Geistes nicht verlieren würde und unbefangen genug bliebe, um
ihr antworten zu können, dann würde ich ihr sagen, dass, sobald ich
ihre wundersame Schönheit mir nur im Bilde meines Geistes denke,
sobald ergreift mich auch eine so mächtige Sehnsucht, sie wirklich zu
schauen, dass sie Alles zerstört und tödtet, was sich in meinem Ge-
dächtnisse gegen sie erheben könnte; und darum halten mich die ver-
gangenen Leiden nicht ab, ihren Anblick zu suchen.« Und so, bewegt
von solchen Gedanken, beschloss ich, gewisse Worte in Versen zu sagen,
in welchen ich mich von solchem Tadel vor ihr rechtfertigen wollte,
und in welche ich zugleich auch das bringen wollte, was in ihrer Nähe
sich mit mir ereignete, und ich verfasste folgendes Sonett:
Was meinen Sinn erfüllt, das muss ersterben,
Sobald ich Euch erblicke, schöne Freude,
Wenn ich Euch nahe, meine Augenweide,
Raunt Amor: »Flieh’! du gehst in dein Verderben!«
Bleich wird mein Antlitz von des Herzens Beben,
Ersterbend muss ich an die Wand mich halten,
Und wie ein Trunkner hör’ ich noch der kalten
Steinwände Donnerruf: »Du kannst nicht leben!«
Der sündigt wahrlich, der in solchem Bangen
Durch einen einzigen Blick des Mitleids nicht
Aufrichtet mein verstört und zitternd Herz —
Allein das Mitleid tödtet Euer Scherz,
Das Mitleid, welches sonst mein blass Gesicht
Erregte und der Augen Todverlangen.
Als ich dieses Sonett verfasst hatte, ergriff mich die Lust, noch
andere Verse zu verfassen, in welchen ich viererlei Dinge über meinen
Zustand sagen wollte, welche ich bis dahin noch nicht ausgesprochen zu
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 907, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-24_n0907.html)