Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 928
Text
Lasterhaftigkeit und der deutsche Quietismus in den Armen des Weibes
sind essentiell verschieden. Ich mache der germanischen Frau fast ein
Compliment, wenn ich von ihrer Gefährlichkeit spreche, denn in den
lateinischen Ländern verhindert weibliche Niedertracht und Albern-
heit häufig eine andere als halbironische Huldigung.
Ich weiss, dass ich hier weder den Bürgern noch den Künstlern
zu Gefallen rede. Diese werden mich der Verherrlichung der Leiden-
schaft, jene der Vergötterung der Entsagung zeihen. Und Beide haben
Recht in ihren Anklagen, denn ich nenne die Leidenschaft herrlich,
aber die Entsagung göttlich. Doch ich werde von jenen blassen Jüng-
lingen verstanden werden, in deren Blicken die Trauer der Spät-
geborenen liegt; welche hingesunken vor der Schönheit des Ver-
gangenen sich ohnmächtig dünken, etwas Anderes als Wissende zu sein.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 928, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-24_n0928.html)