Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 927

Die junge Generation (Schmitz, Oscar A. H.)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 927

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DIE JUNGE GENERATION. 927

Plastik der Form mit der Wollust des Antlitzes vereinend, ihm eine
duftende Weinschale reichte mit den Worten: Ich bin das Ziel deiner
Leiden, schöner Fremdling, ruhe an meinem Busen. Ich bin die
Wahrheit
. Nachdem er die kupferbraunen Brüste geküsst und die
Schale gierig geleert, überfallt ihn traumloser Schlaf. Bei seinem Er-
wachen aber verkündet ihm ein mitleidloser Priester: Hättest du die
Schale ausgeschüttet, so wärest du in das Allerheiligste gedrungen, so
aber wirst du ein Sclave im Tempel bleiben.

In der Literatur der letzten Decennien hat man aus dem Weib
einen wahren Fetisch gemacht. Von ihm erwartet der Leidende Trost,
der Künstler Befruchtung, der Schuldige Reinigung; jene Gnaden,
deren das arme Weib selbst so sehr bedarf. Aus diesem Anklammern
an die Leidenschaft spricht die verzweiflungsvolle Leere unserer Seelen.
Die Ideale sind so weit entrückt, dass wir denjenigen unserer Triebe,
welcher uns wegen seiner materiellen Uninteressirtheit und der Leiden,
die er verursacht, als der verhältnissmässig edelste erscheint, mit einer
künstlichen Gloriole umgeben. Und die Besten sind es, welche vor
diesem Gotte knien, dessen Auge flackert und auf dessen Stirn kein
Friede ist. Der Orient lächelt, das Christenthum entsetzt sich, der
Grieche würde staunen. Und wie Wenige sind dazu gelangt, dieses
rein animische Leben wenigstens als Kunstwerk in dem Logos zu
incarniren. Es ist bekannt, dass sich Goethe auf diesem Wege von
seinen Anfechtungen befreite. Eine ganze Generation welkte an dem
Werther-Wahnsinn dahin, ihm allein ist es gelungen, seine Verirrung
durch die Projection ins Geistige zu sühnen. Das Kunstwerk ist mehr
als eine hingesprochene Beichte; es ist die Reinigung der Seele durch
die lebendige, befreiende That. Wie rein und schmerzlich ist diese
Befreiung in dem Werke eines Felicien Rops, des Classikers des Lasters,
und eines Barbey d’Aurevilly, des Classikers der Leidenschaft. Diesem
ist die Sünde »der Durchgangspunkt für ihr grösstes Heil«, wie der
Meister Eckhart sagt.1)

So haben einige nächtliche Verkünder neuer Evangelien in den
Kaffeehäusern der butte sacrée nicht völlig Unrecht, wenn sie be-
haupten: »il faut que l’artiste se soit vautré dans toutes les ignominies.«
Tugend und Schöpferkraft sind kaum vereinbar, aber die französische


1) Meister Eckhart: Nicht die ursprüngliche Einheit, sondern die aus dem
Bruch wieder hergestellte Einheit ist der wahre Zweck der Schöpfung.



Darum hat auch Gott die Sünde zumeist über die verhängt, die er zu
grossen Dingen berufen hatte, damit sie dadurch zu einer um so grösseren Er-
kenntniss seiner Liebe gelangen könnten.



Auch sollte, wer in seinem Herzen recht beschaffen ist, gar nicht wünschen,
dass ihm die Neigung zum Sündigen verginge; denn ohne sie stünde der Mensch
schwankend in allen seinen Dingen und allen seinen Handlungen, er würde zu
sorgloser Sicherheit verleitet, er entbehrte der Ehre des Streites und der Be-
lehrung des Sieges.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 927, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-24_n0927.html)