Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 926

Die junge Generation (Schmitz, Oscar A. H.)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 926

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926 SCHMITZ.

»fortschrittliche« Gesellschaft eine Sünde wider den heiligen Geist, die
nicht durch die Schwäche des Fleisches entschuldigt wird.

Es handelt sich darum, den verlorenen Sinn der heiligen Worte
wiederzufinden, um der Flucht des Talents in das Lager des Aufruhrs
Einhalt zu thun. Man würde dann vielleicht die Lächerlichkeit einiger
demokratischer Jünglinge erkennen, welche glauben, von der natürlichen
Evolution der Ideen absehen zu können, in der Hoffnung, einen Ho-
munculus anzufertigen, dessen höchste Vollkommenheit dennoch darin
bestünde, möglichst so zu erscheinen, als sei er ex utero geboren.

Wie Lord Byron mit 18 Jahren ausrief: »Fahr’ wohl, Homer, den
ich so sehr gehasst!« ebenso wendet die junge Generation ihre Blicke
von den Heiligthümern, in welchen die Betbrüder einen süsslich-faden
Geruch verbreiten. Man ist unter klugen Leuten misstrauisch gegen
alle grossen Worte, weil sie mit der Vorstellung schmutziger Lehrer
und feister Priester verknüpft sind.

Es ist begreiflich, dass gewisse Kreise, von welchen in unseren
Culturcentren der Bürger ausgeschlossen bleibt, auf einen Jüngling von
wunderbarer Anziehung sind, der, aus der puritanischen Zucht eines
norddeutschen Familienheims entlassen, dem Jodoformgeruch jener, wie
es scheint, unheilbaren Wunde der Studentenverbindungen entgeht;
diese sind durch ihre Rechnung auf die jammervollsten Vellëitäten
dieser Zeit — die kleinliche Eitelkeit und die Angst, mit seinem Nichts
allein zu sein — einer beständigen Zufuhr unbegabter Bürgersöhne
sicher, die zwischen den landesüblichen Narcosen väterlicher Skat-
spiele und Frühschoppen gezeugt sind. Diese berüchtigten Künstler-
kreise, von welchen sich die Bürgersfrauen voll wollüstiger Entrüstung
erzählen lassen, sind wohl heute der einzige Herd, wo vielleicht —
wenn auch unter grossen Gefahren — eine Erziehung der Persönlichkeit
möglich ist. Ein schrankenloser Individualismus entreisst den Neophyten
aus dem Ergastulum der Gesellschaft. Es wird ihm die weiche Unter-
lage seiner theuren Vorurtheile und bequemen Ideale entzogen. Er
erlebt einen Schiffbruch, und es ist fraglich, ob er sich ans Land
retten wird. Aber er erlebt! Wer kann von sich das Gleiche sagen
unter seinen Altersgenossen, welche sich in dem üblen Geruch der
Bierhäuser und bestenfalls der Hörsäle in Betrachtungen über die
Klippen der Staatsprüfungen und die mit einer kleinen Börse vorher
zu ermöglichenden Räusche erschöpfen? (Bei dem französischen Stu-
denten tritt an Stelle dieser letzten Voreingenommenheit die Hoffnung
auf unentgeltliche horizontale Genüsse, zu deren Erlangung wenigstens
eine bisweilen nicht unerhebliche persönliche Initiative gehört.) Dem
Schiffbrüchigen aber naht meist eine Leucothea, und in dem naiven
Quietismus jenes germanischen Glaubens, in dem Weib das Unendliche
zu finden, bleiben die meisten stehen. Der Geist findet eine Seele, in
die er sich hüllt, aber das Gewand beschwert ihn. Der der Materie
Entflohene hat gleich dem Neophyten der hermetischen Tempel durch
das Besiegen der Feuer- und Wasserprobe sein Leben gerettet, nicht
aber vermochte er dem nubischen Weibe zu widerstehen, welches, die

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 926, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-24_n0926.html)