Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 925

Die junge Generation (Schmitz, Oscar A. H.)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 925

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DIE JUNGE GENERATION. 925

welche in gleicher Tiefe in der uralten Ramareligion, dem Zend-
Avesta, dem Brahmanismus wie in der hermetischen Offenbarung der
Egypter, dem mosaischen Sepher Bereshit, den dionysischen, del-
phischen, eleusinischen Mysterien und in dem Christenthum enthalten
sind, jenes Ideal, das in der Projection der Seelenkräfte ins Geistige1)
besteht. Die Verkünder dieser Religionen sprechen zu Zeiten, da
Leidenschaft und Kampflust die Gemüther erfüllte, da das blinde
Drängen glühender Seelen1) schöpferischer Geister1) harrte, welche
nach ihrem Gutdünken das überreiche Leben in babylonischen Bel-
phegorfesten verschwenden oder in attischen Säulentempeln fesseln
konnten. Heute aber fehlt jegliches seelische Material. Diese pachyderme
moderne Gesellschaft, die völlige Empfindungslosigkeit vor dem Un-
endlichen, das durch den logos der Religion und der Kunst selbst
denen zugänglich wird, die es nicht in sich selbst oder der Natur zu
finden vermögen, jene Blindheit, die den niederen Tastwerkzeugen für
Gewinn, Titel, abstumpfende Getränke und Kartenspiele eine unnatür-
liche Entwicklung ermöglicht, die vollkommene Erschlaffung der Seelen-
kräfte verlangt nach niedrigeren Idealen, als sie der glühenden Ver-
gangenheit gebührten. Ihre bodenlose Unwissenheit befreit die Menschen
fast von der Verantwortlichkeit, ebenso wie man von bösartigen und
gefrässigen Säuglingen keine Rechenschaft verlangen kann. Man möchte
an eine niedere, der leblos scheinenden Natur verwandte Incarnation
denken, die der Erlösung im Geist nicht fähig erachtet wird, da sie
noch nicht im Fleisch geboren ist.

Die unbewussten Seelenkräfte schlafen, und der bewusste Geist
ist mit Irrlehren erfüllt. Während die Schwächen der Seele verziehen
werden, ist die Sünde wider den Geist unentschuldbar. In der weisen
Vergangenheit war man darauf bedacht, für kleine Hirne eine exoterische
Lehre zu finden, welche in gleicher Weise den seelischen wie geistigen
Bedürfnissen der Mittelmässigkeit entsprach und dennoch die Wahrheit,
wenn auch in siebenfacher Umhüllung enthielt. So war wenigstens der
Geist des Volkes willig. Aber heute wagt das freidenkerisch zu sein,
positivische Krämer lächeln über die Wahrheiten, vor denen sich die
Menschheit zu allen Zeiten beugte, und Alles dies dank jener herr-
lichen Gewissensfreiheit des Neochristianismus. In Frankreich hat die
Revolution den begüterten Pöbel souverän gemacht, was zu komisch
ist, als dass man sich darüber entrüstete. »Man« sieht, hinter seinem
Absynthglas sitzend, den nützlichen Verrenkungen des ewig schwitzenden
Bourgeois zu und ruft vergnügt: Ohé, ohé les races latines! indem
man sich mit der Ueberflüssigkeit der eigenen, wenig lucrativen
Existenz tröstet. Wenn ich am Eingang das Dasein einiger Wissender
eine ewige Kreuzigung nannte, so scheint mir diese »aufgeklärte«,


1) Ich bediene mich der Ausdrucksweise der Magie, welche in Geist,
Seele, Körper den menschlichen Widerschein der göttlichen Dreiheit sieht, das
schaffende, das empfangende, das erzeugte Element, die Idee, die Leidenschaft,
den Instinct. Ich halte diese Anmerkung für nothwendig, da man heute — dank
dem wissenschaftlichen Fortschritt — beständig Geist und Seele verwechselt.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 925, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-24_n0925.html)