Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 924
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lösung, hat man willkürliche Synthesen, wie Fahne, Fortschritt, Nation
und Menschheit (diese lächerlichste aller Synthesen) untergeschoben,
so dass man bequem dem Gegner dieses sogenannten »Fortschritts«
einen »Mangel an Idealismus« vorwerfen kann (was in Deutschland
immer noch eine gewisse Wirkung hervorbringen soll).
Die religiösen und aristokratischen Ideen haben eine masslose
Verbürgerlichung erfahren. Es ist nicht wunderbar, dass das Christen-
thum gerade von den Besten bekämpft wird, da man sich gewöhnt
hat, es durch die Augen jenes bäurischen Mönchs zu sehen, der be-
gnadet wurde, das leoninische Rom zu betreten, dessen Klang allein
den Zurückblickenden den Glauben an die Menschheit wiederzugeben
vermag, aber dort nichts als eine allzu zügellose Daseinsfreude wahr-
nahm, jenes durchaus secundäre Corrolarium künstlerischer Zeiten.
Ebensowenig ist es wunderbar, dass eine Aristokratie, die ihre Vor-
rechte benützt — wenn dies möglich ist — noch verächtlicher zu
sein als eine nur durch den Besitz verderbte Bürgerclasse, zu fort-
währenden Sclavenaufständen Anlass gibt.
Menschen, deren Temperament ihre vielleicht immerhin ungewöhn-
liche Intelligenz übersteigt, fühlen sich zu dem Lager hingezogen, wo
jugendliches Leben herrscht. Diejenigen, welche heute die Scheintradition
hüten, sind von Intelligenz und Charakter oft so beklagenswerth, dass
man eine Zeit lang nur unter den Aufrührern — trotz des Lands-
knechttones, der bisweilen wie in jedem Lager herrschte — einiger-
massen gute Compagnie finden konnte. Ja, es durfte dort ein Philosoph
auftreten, der dieser rudis indigestaque moles der heutigen Gesellschaft
ein Evangelium der That verkünden konnte, welches in den männ-
lichen Zeiten der grossen Culturen eine überflüssige Ketzerei gewesen
wäre. Er durfte, ohne seiner Grösse zu schaden, verdächtige Worte
gegen das Christenthum im Munde führen, denn in ihm glühte der
prophetische Zorn über die Kleinheit des Zeitalters, jener heilige Eifer,
welchem Gott das Zerbrechen der Tafeln verzeiht. Wie der Bischof
Ulfilas den allzu kriegerischen Gothen die Bücher der Könige vorent-
hielt, so musste dieser grosse Seher in einer Zeit vollkommener Ent-
kräftung, in welcher ein stumpfsinniger Materialismus oder eine feige
Rechnung auf das Jenseits alle Bewegung lähmt, die Nichtigkeit
dieses Lebens verschweigen. In einer Zeit, wo an Stelle des Ehr-
geizes Geldgier oder Titelsucht, an Stelle der »Weltlust« das »erbärm-
liche Behagen« getreten ist, war es angebracht, die Helden der italieni-
schen Renaissance hervorzurufen und die Schönheit ihrer Leidenschaft
zu zeigen, ob diese Schönheit gleich nicht die höchste ist. Wie tief
muss eine Zeit verkommen sein, deren völliger Abgestumpftheit man
die Entfesselung der Leidenschaft preist, welche, um zur Erlösung
fähig zu werden, erst die Kühnheit zu sündigen erlernen muss. Dieses
Zeitalter, das nur auf die Bethätigung der niedersten Instincte gerichtet
ist — derjenigen, welche nach der weisen Psychologie der pytha-
goräischen Schule den Menschen zu Handel und Industrie befähigen
— würde das Ideal der esoterischen Lehren nicht fassen können,
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 924, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-24_n0924.html)