Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 923

Die junge Generation (Schmitz, Oscar A. H.)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 923

Text

DIE JUNGE GENERATION. 923

daher einer Gesellschaft der Mittelmässigen am Herzen liegen, diese
beiden Kräfte im Keim zu ersticken. Hiezu bedient sie sich einer
Religion, welche der Eitelkeit bürgerlicher Gehirne durch eine Art
Gedankenfreiheit schmeichelt, welche das Gefühl des Unendlichen in
dem staubigen Spinnegewebe vernünftelnder Sophistik so vollkommen
erstickt, dass Handel und Industrie nichts mehr von transscendenten
Weltanschauungen zu fürchten haben. In ihrer ungemeinen Nützlichkeit
für die Zahl fürchtet diese Religion nichts mehr als starke, individuelle
Willensbethätigungen. Sie bewahrt die Grenzen »bürgerlicher Sitte«,
indem sie ihre Moral den grossen Religionen zu entlehnen scheint.
Sie bedient sich der Vorschrift der Selbsterniedrigung, welche sich in
allen transscendenten Bekenntnissen findet, als Waffe gegen die, welche
einen unabhängigen Willen besitzen. So preisen diese kleinen Bürger
die Selbstverleugnung, sie, die nicht einmal ein Selbst zu verleugnen
haben, deren Sein von Anfang eine Verleugnung Gottes gewesen ist.
Sie vergessen, dass nur der sich erniedrigen kann, welcher auf einer
gewissen Höhe steht. Nicht anders als durch ein Gleichniss glaube ich
diese Art der Sittlichkeit ausdrücken zu können.

»Lass ab, zu strömen und zu rauschen,« sprach Gott zu dem
Giessbach, »werde ein klarer, unbewegter Bergsee!« »Wie ich,« sagte
der Sumpf.

In einer Zeit, wo Bequemlichkeit und persönliche Sicherheit un-
verhältnissmässig wachsen, müssen Muth und Geistesgegenwart wie
ausser Thätigkeit gesetzte Organe erschlaffen. Der unvorhergesehene
Zufall, jener Erzeuger grosser Charaktere, ist wesentlich seltener ge-
worden. Ueberall stösst der schöpferische Geist an die Mauer, welche
durch die Menge der an sich werthlosen Steine die brutale Kraft
eines Naturelementes darstellt. Während Trimalchio’s Gäste ihre Hände
in den Locken schöner Knaben trocknen durften, gäbe es heute Leute,
meint Flaubert, welche sich entrüsten würden, wenn ein Ausserordent-
licher in seinen Ställen ein paar dieser feisten Krämer halten wollte.
Ungewöhnliche Persönlichkeiten sind zu gross für diese Zeit, deren
geistiger Horizont in den Forderungen der für bürgerliche Gesässe
berechneten Staatsprüfungen gegeben ist. Was darüber ist, ist vom
Uebel.

Eine persönliche Bethätigung ist fast nur in dem Lager des Auf-
ruhrs möglich. Darum sieht man fast alle schöpferischen Naturen,
denen der Rauch ihrer inneren Flammen oft die Augen trübt, gegen die
Ueberlieferungen ankämpfen, welche sie nur aus der Verzerrung kennen.
In den Händen entarteter Lehrer und Priester ist von der grossen
Tradition nichts als die Nomenclatur lebendig geblieben. Indem Sumpf
und Bergsee verwechselt werden, können sich nichtswürdige Idioten
zur Begründung ihres unverzeihlichen Daseins platonischer und biblischer
Worte bedienen. Die Hauptentstellung beruht in der Anwendung der
Symbole für die Einheit der ewigen Rhythmen im All auf die
»sociale« Einheit. Der Idealismus dient dem socialen Körper, diesem
»Leviathon«; den essentiellen Ideen, wie Gottheit, Incarnation, Er-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 923, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-24_n0923.html)