Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 935
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ihre Erfolge erringen, gemahnt immer etwas an das weihrauchgeschwän-
gerte Clairobscure der Kirchen, und so wünschte sich denn auch
Henry George mehr ein stimmungsfähiges als ein intelligenteres Milieu.
»Der Fortschritt der Civilisation,» ruft er in einem seiner späteren
Werke, »Social Problems« betitelt aus, »der Fortschritt der Civilisation
fordert, dass den socialen Angelegenheiten immer mehr Verständniss
entgegengebracht werde, und zwar nicht bloss seitens einiger Weniger,
sondern seitens der Massen. Wir können nicht ohne Nachtheil die
Politik den Politikern, die Volkswirthschaft den Universitätsprofessoren
überlassen. Das Volk selbst muss denken, weil das Volk allein handeln
kann. Dieses Verständniss, welches wir für die socialen Probleme
fordern, ist aber keineswegs bloss eine Sache der Vernunft. Es muss
beseelt sein von religiösem Empfinden und erwärmt vom Mitgefühl
mit menschlichen Leiden. Es muss hinausragen über den Eigennutz,
sei es nun der Eigennutz einer Person oder der Masse, es muss Ge-
rechtigkeit suchen; denn auf dem Grunde eines jeden socialen Pro-
blems liegt ein sociales Unrecht.« So tritt Henry George gleich den
meisten Reformatoren mehr mit den Prätensionen eines Priesters als
mit denen eines Lehrers auf, und seine Bedeutung liegt weniger in
der Fruchtbarkeit als in der reinigenden Macht seiner Ideen.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 935, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-24_n0935.html)