Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 934
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projectes wenn nicht überhaupt unmöglich wäre, so doch einen uner-
träglich complicirten Apparat erforderte, da die Ermittlung der Rente
in jedem einzelnen Falle wohl das Schwierigste wäre, was man sich
denken kann. Aber auch wenn wir davon absehen und das Princip
zugeben wollen, dass eine zu weit gehende, individuelle Aneignung von
Grund und Boden geradezu unerträgliche und unvernünftige Zustände
zeitigen kann, bleibt doch immer noch die Frage offen, ob wirklich
eine die Grundrente absorbirende Steuer auch wirklich der Zauber-
schlüssel sein könne, mittelst dessen sich die Menschheit endlich das
irdische Paradies und die so vielgenannte »wahre Freiheit« erschliessen
könnte. Wenn das, worauf Henry George eigentlich seine ganze Ar-
gumentation stützt, wahr ist, dass nämlich die Expansivkraft der Rente
diejenige von Capitalszins und Arbeitslohn weitaus überwiege, unwider-
stehlich sei, dann sieht man nicht ein, wie Zins und Lohn in dem
neuen Verhältnisse steigen sollen, da doch die Rente — mit allen
ihren Unarten — weiterbesteht und jetzt nur in den Säckel des Staates
statt in den eines Privaten fliesst. Ja, da die Steuer die volle Rente
aufsaugen, d. h. bis zur äussersten Grenze reichen soll, so ist dies
ganz gleichbedeutend mit der Forderung, dass die Steuer den Capitals-
zins und Arbeitslohn auf das Minimum herabdrücken müsse. Unter
dem Verdachte, Jemand könnte noch Rente beziehen, wird der Staat
den Grundbesitzern gerade so viel lassen, dass sie nicht verhungern
— in der besten aller Welten. Nun sollen sich die Leute zwar damit
trösten, dass die unermesslichen Schätze, welche dann dem Staate zur
Verfügung stehen würden, ausschliesslich dem Gemeinwohl gewidmet
sein sollten, und alle Vertheidiger der einigen Grundrentensteuer von
Thomas Payne bis auf Henry George werden nicht müde, all das
Schöne und Gute aufzuzählen, was der Staat und die Gesellschaft Alles
dem Volke aus der Grundrentensteuer leisten würden. Sie vergessen
dabei nur auf eine Kleinigkeit, dass nämlich die Erhebung dieser Steuer
von keiner fallweisen Bewilligung abhängen dürfte und könnte. Das
Parlament, das damit seiner ältesten und schärfsten Waffe, des Rechtes
der Steuerverweigerung, beraubt wäre, könnte ruhig nach Hause gehen,
und es bliebe ganz dem Staate, d. h. der Regierung anheimgegeben,
ob sie die reichen Steuereingänge wirklich nur zu gemeinnützigen
Zwecken verwenden oder ob sie dieselben bei Manövern verpuffen
und in Kanonen investiren wollte, welche sich eventuell auch gegen
Jene richten könnten, welche sich mit diesem neuesten Reich der
»wahren Freiheit« nicht einverstanden erklärten.
Wenn man nach den Gründen der grossen Wirkung forscht,
welche Henry George übte und noch übt, darf man sich nicht an die
Neuheit und nicht an die Richtigkeit seiner Lehre halten. Wie alle
Propheten wirkt er nicht durch das, was er predigt, sondern wie er
predigt, es ist nicht die objective Unanfechtbarkeit, womit er Andere
überzeugt, sondern die eigene reine und starke, von Begeisterung durch-
flammte Individualität, welche hinreisst und mehr durch Suggestion als
durch Logik wirkt. Der Bereich, in welchem Männer wie Henry George
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 934, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-24_n0934.html)