Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 933

Henry George (Zenker, Ernst Victor)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 933

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HENRY GEORGE. 933

dass alle künftigen Werthvermehrungen, die nicht den Verbesserungen
des Besitzers zuzuschreiben wären, dem Staate gehören sollten. Bekannt
sind die Ansichten Herbert Spencer’s in der sogenannten »Landfrage«.
Dieser greise Fahnenträger der strengen Wissenschaftlichkeit, der gewiss
keine Ader vom Gefühlspolitiker oder Utopisten in sich hat und der
individuellen und wirthschaftlichen Freiheit die weitestgehenden Con-
cessionen macht, hat gleichwohl bei jedem erdenklichen Anlass gegen
die individuelle Aneignung von Grund und Boden Protest erhoben,
weil, wenn ein Stück Land als Eigenthum betrachtet werden kann,
dies den Gedanken involvirt, dass auch der ganze Erdball die Privat-
domäne einiger weniger seiner Bewohner werden könne. Spencer ist
daher der Meinung, die Gesellschaft soll nach vorhergegangener Com-
pensation der bisherigen Landeigentümer alle Ländereien in Besitz
nehmen, und die wirklichen Bebauer des Bodens sollten Pächter werden,
welche die Rente dem Staate als Pachtschilling abzuliefern hätten.

Der meist geplünderte und zugleich am meisten verschwiegene
Socialist dieses Jahrhunderts, Proudhon, dürfte auch Henry George
als directe Vorlage gedient haben, obwohl dieser zwar Mill und
Spencer, nicht aber Proudhon in seinen Werken als Vorläufer nennt.
Henry George’s Ansichten bilden aber in Wirklichkeit nur einen Aus-
schnitt aus dem riesigen Gedankencomplex dieses bei all seinen
Schwächen in seiner Grösse und Vielseitigkeit bewunderungswürdigen
Denkers. Proudhon hat mit seinem vielgenannten Worte »Eigenthum
ist Diebstahl« (la propriété c’est le vol) nicht das Eigenthum an und
für sich gemeint, sondern eben nur jene nach seiner Ueberzeugung
unberechtigte Aneignung von Grund und Boden, und indem er der
Grundrente als der wirthschaftlichen Formel dieses Unrechtes den Ver-
nichtungskrieg schwor, wollte er den Eigenthumsbegriff bloss von seinen
Schlacken reinigen und das Wort »Eigenthum ist Diebstahl« in sein
Gegentheil umwandeln: »Eigenthum ist Freiheit!« (la propriété c’est la
liberté). Als Mittel zur Vernichtung der Rente hat er aber zu wieder-
holtemmal eine alle übrigen Steuern ersetzende Steuer auf die Grund-
rente vorgeschlagen.

Ein origineller Denker ist also Henry George nicht. Für die
Stichhältigkeit seiner Anschauungen bildet die stattliche Reihe von
Vorgängern — worunter sich praktische und nüchterne Männer wie
Turgot, Mill und Spencer befinden — allerdings ein sehr günstiges
Präjudiz. In der That ruht das Wesentliche der von ihm vorgetragenen
Lehre auf einer von der wissenschaftlichen Nationalökonomie unein-
geschränkt anerkannten Thatsache, von der Unabwälzbarkeit einer auf
die Grundrente gelegten Steuer. »Selbst wenn sie die Grundrente
völlig verschlänge,« sagt Roscher, »würde zwar der Preis der Grund-
stücke um den capitalisirten Betrag der Steuer verringert werden,
aber für Productionszwecke weder ein kleineres Angebot von Grund-
stücken, noch eine grössere Nachfrage eintreten.« Dagegen müssen wir
auch hinzufügen, dass sich ernste Nationalökonomen ebenso klar
darüber sind, dass die praktische Durchführung eines solchen Steuer-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 24, S. 933, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-24_n0933.html)