Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 25
Randglossen über London (Daudet, Madame Alphonse)
Text
Das Wetter hat sich abgekühlt, ein Nordwind weht; dennoch
fahren die Equipagen, fast alle offen, eng aneinander vorüber. Sammet,
Pelze, noch einige winterliche Kopfbedeckungen, und ich stelle in der
Kleidung Härten, Ungleichheiten fest. Bei uns fügte man zu dieser
Jahreszeit Malve, Veilchen, Granatstein und Rose zusammen, ohne
Missfallen daran zu finden: im Gegentheil eine reizende Wirkung, als
wenn durch ihre unsichtbaren Schattirungen diese Farben zusammen-
passten; hier nichts Aehnliches: das Grün ist nahe auf der Wiese, das
Blau algerischer Himmel, das Roth militärische Uniformen; das Violett
bischöfliche Handschuhe. Dies schadet den schönsten Farben; und
wirklich könnte man die ganze weltliche Eleganz äusserlich widmen,
die nur den Equipagen, den Pferden und den tadellosen Gespannen
gewidmet ist.
Unvergleichliches Museum die Nationalgalerie, wo man die eng-
lische Schule in ihren drei grossen Porträtmalern: Lawrence, Raynolds,
Gainsboraugh bewundert; und die Sammlung der Holbein’s, Van Dyck’s
und Velasquez’, der Quäker von Botticelli bis Crivelli. Von diesem
eine Jungfrau mit dem Knaben: der Knabe Jesus, der ausdruckvollste,
den ich je gesehen habe, schlafend, sein kleines Haupt auf eines
seiner Händchen gelegt, mit jener Zuversicht im Schlafe und auf den
Knien der Mutter, so kindlich und so wahr. Sie ist ergreifend, diese
Unwissenheit über die Kreuzesnägel und den Aufstieg zum Calvarien-
berg. Nichts als der Knabe; man erkennt selbst nicht mehr Gott in
ihm, sondern nur den Sohn der Maria. Von Holbein das Bild einer
Prinzessin in jenen steifen Kleidungsstücken, jenen halbmönchischen
Brustschleiern, jenem beinahe ganz klösterlichen Schwarz, welches
Spanien vorschrieb. Von Hoppner die Gräfin Oxford mit einem Korallen-
halsband geschmückt. Constables. Hogarths: jene sehr beliebte, so
schreckliche »Vermählung« mit ihren Costümen aus dem XVIII. Jahr-
hundert, welche bei uns nur noch zu galanten und heiteren Scenen
dienen, die Reihe der charakteristischen Gemälde, welche zuerst die
beiden Gatten einander gegenüber in dem Zusammenbruch ihres Tafel-
geschirres und ihrer Schnurrpfeifereien zeigen; die Flucht durch das
Fenster und den Dolchstoss, der den Gatten tödtet; den Tod der
Frau, welche, glänzende Ringe an der Hand, ihm den Puls fühlt,
während die Diener sich beim Mahle beeilen — grausame Erfin-
dungskraft, düsteres und trauriges Gemälde, das Unbehagen bergend,
die menschliche Gestalt in ihren ausdrucksvollen Zügen erbittern zu
sehen.
Von Gainsborough das anziehende Gemälde der Frau Siddons
mit länglichem Gesicht, gepuderten Locken und unförmlichem Hut,
der den kleinen Kopf beschattet, ihn zarter erscheinen lässt, während
der gepresste Sämmet am Halse ihn verschönert, die Gesichtsfarbe
bleich macht, die Augen belebt; ein Wunder von Anordnung wie
Malerei. Reynolds: stets sein gleicher weiblicher Typus mit dem auf-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 25, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-01_n0025.html)